Javier Milei mutet Argentinien ein knallhartes Sparprogramm zu und attackiert die Opposition, Frauen und Andersdenkende. Dennoch bleibt der libertäre Präsident für viele ein Hoffnungsträger.
Javier Milei ist hundert Tage im Amt. Doch der libertäre Ökonom hat in Argentinien bereits jetzt einen Kulturwandel ausgelöst, den man vor kurzem nicht für möglich gehalten hätte. Die staatliche Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas müsse dringend privatisiert werden, schimpft ein Taxifahrer, als neben ihm eine in die Jahre gekommene Maschine vom Stadtflughafen abhebt. Es gehe nicht, dass das Staatsunternehmen monatlich eine Million Dollar Verlust einfahre und gleichzeitig Kinder nichts zu essen hätten, so empört er sich.
Ein Appell für Privatisierungen von einem Taxifahrer? Das war bis vor kurzem in Argentinien undenkbar. Milei will Dutzende staatliche Unternehmen privatisieren – und bekommt dafür genauso Unterstützung in der Bevölkerung wie für seine Sanierung der maroden Staatsfinanzen. «Auf Forderungen nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt wurde stets mit dem Argument geantwortet, dies sei kaltherziger Neoliberalismus», sagt Fernando Iglesias, liberaler Abgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für internationale Beziehungen im Kongress. «Heute ist es politischer Konsens, dass der Staatshaushalt saniert werden muss.»
Milei hat Argentinien einen Energieschub verpasst
Die Zeitenwende im politischen und gesellschaftlichen Klima ist erstaunlich. In Buenos Aires wirkt es, als habe die bis vor kurzem resigniert wirkende Gesellschaft des Krisenlandes mit seinen 46 Millionen Einwohnern plötzlich einen Energieschub erhalten.
Dabei mutet der 53-jährige Präsident den Menschen viel zu. Auch in Argentinien blicken wie weltweit viele mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination auf Milei. Doch er hat seine radikalen Reformen genau so angekündigt, wie er sie jetzt durchführt. Das macht ihn glaubwürdig, auch bei Menschen, die ihn eigentlich ablehnen.
Im Wahlkampf warf er symbolisch die Kettensäge an. Jetzt regiert im Staatshaushalt der Rotstift seines Wirtschaftsministers Luis Caputo. Die Überweisungen an die Provinzen, die Staatskonzerne, die Renten – überall kürzt der ehemalige Zentralbankpräsident und Investmentbanker Caputo.
Nachdem der Kongress das grosse Reformpaket der Regierung mit den über 600 Gesetzen im ersten Anlauf abgelehnt hat, setzt Milei auf Zeit: «Die Regierung lässt die Inflation die schmutzige Arbeit machen», sagt Carl Moses, ein Wirtschaftsexperte in Buenos Aires. Denn Milei passt die Renten und Sozialleistungen langsamer an als die Inflation.
Zwar schiessen die Preise derzeit nicht mehr gleich steil nach oben: Im Dezember betrug die Inflationsrate 25 Prozent – in einem Monat. Im Februar waren es noch 13 Prozent. Es sind aber immer noch 280 Prozent in zwölf Monaten.
Die Menschen legen Dollars wieder auf der Bank an
Entsprechend sinkt die Kaufkraft der Bevölkerung und nimmt die Armut zu: Inzwischen sollen nach offiziellen Statistiken 60 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze leben. Bei Amtsantritt im Dezember waren es noch 45 Prozent.
Trotzdem stehen in Umfragen weiterhin mehr als die Hälfte der Argentinier hinter Milei – etwa so viele, wie ihn gewählt haben. Quer durch alle Schichten setzen die Menschen auf ihn und hoffen, dass er den nun hundertjährigen Abstieg des einst reichen Landes stoppen kann. Der Essensbote sagt das genauso wie die Gartenarchitektin für Reiche, der venezolanische Coiffeur wie die Rentnerin, die im Supermarkt über die Preise schimpft.
Die Menschen legen ihre Dollars sogar wieder auf Sparkonten an. 2,3 Milliarden Dollar sind es, seit Milei sein Amt angetreten hat. In Argentinien ist das ein besonderer Vertrauensbeweis. Wer kann, hortet seine Dollars traditionell unter dem Kissen oder im Ausland. Schon mehrfach wurden früher nämlich Bankkonten gesperrt.
Erstmals seit vielen Jahren ist der Staatshaushalt wieder ausgeglichen. «Ein Plus von 5 Prozent in einem Monat im Staatshaushalt ist historisch noch keinem Staat in Friedenszeiten gelungen», sagt Milei. Auch der Peso hält sich auf dem Schwarzmarkt stabil gegenüber dem Dollar. Die Zentralbank hortet wieder Dollars. Die Rekordernte der Landwirte hilft ihr dabei.
Dennoch kann Milei seinen Sparkurs per Inflation nicht ewig fortsetzen. «Die Inflationssteuer ist kein nachhaltiges Instrument zur Haushaltssanierung», urteilt die Investmentbank JP Morgan. Der brutale Sparkurs führt dazu, dass staatliche Leistungen ausfallen, die lebensnotwendig sind: Krankenhäuser versorgen viele chronisch Kranke nicht mehr mit Medikamenten. Züge bleiben stehen, weil Ersatzteile fehlen.
Es ist eine Frage der Zeit, bis die sozialen Proteste zunehmen werden. Denn die Kosten des Anpassungsprogramms werden ungleich verteilt. Die Armen, Alten und die untere Mittelschicht sind die Leidtragenden.
Die Schulgebühren haben sich seit Jahresende verdoppelt
Sie trifft es besonders hart, wenn Transport und Strom, Schulen und Spitäler nicht mehr subventioniert werden. Die Preise für Bustickets haben sich verzehnfacht, die Gebühren in den stark frequentierten privaten Schulen haben sich verdoppelt: Manche Eltern melden ihre Kinder jetzt für den Beginn des neuen Schuljahres nach den Sommerferien von privaten Schulen ab, weil sie sich das nicht mehr leisten können – und schicken sie in staatliche Lehranstalten. Doch diese bekommen ihrerseits die Gelder gekürzt und können kaum noch den Lehrbetrieb aufrechterhalten.
Auch den alltäglichen Konsum schränken die Menschen ein. Die Lebensmittelpreise steigen rasant: Ein Steak kostet in Buenos Aires, wo viele den täglichen Fleischkonsum als eine Art Menschenrecht betrachten, jetzt schnell einmal 25 Dollar. Der Mindestlohn beträgt rund 360 Dollar.
Auch die Mieten sind explodiert: Jahrelang konnten Vermieter nur alle sechs Monate die Mieten an die Inflation anpassen. Die Folge: Sie liessen ihre Immobilien leer stehen. Jetzt schliessen sie vermehrt Mietverträge in Dollar ab. Die Folge: Seit wenigen Wochen werden mehr Immobilien angeboten. Doch viele Mieter können sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten.
Die steigenden Preise werden auch einen anderen negativen Nebeneffekt haben: Der florierende Tourismus und die Anziehungskraft der 15-Millionen-Einwohner-Metropole auf digitale Nomaden dürften deutlich sinken. Noch ist die Stadt trotz der Dauerkrise gepflegt, und auch die Infrastruktur funktioniert. Bis vor kurzem noch waren die Cafés und Restaurants bis spätabends voll. In den letzten Wochen sind sie allerdings spürbar leerer geworden.
Milei beschimpft bevorzugt Frauen und Andersdenkende
Auf der Nomadlist, einem Ranking der beliebtesten Orte weltweit für Arbeitnehmer und Selbständige, führt Buenos Aires in Südamerika. Das liegt an den im internationalen Vergleich niedrigen Lebenshaltungskosten. Aber auch bei Lebensqualität und Toleranz gegenüber diversen Lebensformen steht Buenos Aires ganz oben. Viele schreckt Mileis Schulterschluss mit Rechtskonservativen wie Trump oder Bolsonaro nun aber ab.
Über Twitter hetzt er aggressiv wie diese beiden gegen Andersdenkende – oft sind es Frauen. Ausgerechnet am internationalen Frauentag benannte er den «Ehrensaal der Frauen» im Präsidentenpalast um in den «Saal der nationalen Helden» – und liess dort Frauen- durch Männerporträts ersetzen.
Als Gita Gopinath, die Vizechefin des Internationalen Währungsfonds (IMF), vor kurzem den Präsidenten in Buenos Aires traf, verstand sich die Spitzenökonomin prächtig mit Milei. Irgendwann soll dieser seine Argumente mit mathematischen Gleichungen unterlegt haben. Er sei ein echter Ökonom, mit dem man gut debattieren könne, erklärte sie nach ihrer Rückkehr.
Doch auch Gopinath forderte von Milei ein umfassendes Reformprogramm – nicht nur Sparmassnahmen. Die Regierung müsse die Kosten der Anpassung auf die gesamte Gesellschaft verteilen. Sonst seien die Reformen nicht nachhaltig.
Das Plazet aus Washington ist wichtig für Argentinien. Mit einem Kredit von 40 Milliarden Dollar ist Argentinien der mit Abstand grösste Schuldner des IMF. Dieser zahlt weiter an Argentinien – aber nur so viel, dass die Zentralbank die Tilgungsraten überweisen kann. Würde der IMF das Abkommen kündigen, dann wäre Argentinien von den weltweiten Finanzmärkten abgeschnitten.
Doch der IMF wird Argentinien derzeit kaum fallenlassen. Milei sieht sich so fest verankert im Westen wie kaum ein Staatsoberhaupt in Lateinamerika: Er verurteilt Diktaturen wie Russland und China. Er lehnt die Mitgliedschaft ab im Brics-Klub der grossen Schwellenländer, der heute von China dominiert wird. Er ist solidarisch mit der Ukraine und Israel.
Für den Währungsfonds sei Milei zudem so etwas wie ein unverhoffter Glücksfall, heisst es in Washington. Als politischer Aussenseiter setze er nun genau das um, was man immer von Argentinien gefordert habe, sagt etwa ein hochrangiger Experte des Fonds. Milei mache das Richtige – nur vielleicht etwas zu schnell.
Nur wenn die Wirtschaft wächst, kann Milei populär bleiben
Milei setzt darauf, dass in- und ausländische Unternehmen wieder investieren, wenn die Inflation weiter sinkt. Er hofft, dass bereits die jetzigen Liberalisierungen eine Wachstumsdynamik auslösen werden. Bis Jahresende könnte die Wirtschaft die Rezession hinter sich lassen – und damit die hohe Zustimmung für ihn in der Bevölkerung erhalten.
Der Präsident ist auf die anhaltende Popularität in der Bevölkerung angewiesen. Sie ist der Rettungsanker für sein politisches Überleben. Denn im Kongress hat seine Partei weniger als 15 Prozent der Sitze. Dort muss er möglichst bald eine Mehrheit finden für sein Reformpaket.
Doch das dürfte schwierig werden, wenn er die Politiker generell weiterhin als gierige, korrupte «Kaste» beschimpft. Nun will er die Gouverneure auf seine Seite ziehen. Die 24 Provinzvorsteher haben grossen Einfluss im Kongress – aber keiner von ihnen ist aus Mileis Partei. Der Präsident bietet ihnen einen Zehn-Punkte-Pakt an, den sie am Unabhängigkeitstag, dem 25. Mai, unterzeichnen sollen.
Der Pakt ist ein Affront: Die zehn Punkte des Abkommens sind eine Kopie des Washington Consensus. Dessen neoliberale Regeln benutzte der IMF vor 30 Jahren als einen Leitfaden für Staatsreformen verschuldeter Schwellenländer: Sparkurs, Deregulierung, Bürokratieabbau. Von einem «Konsens» konnte allerdings nie die Rede sein. Er ist in Argentinien wie in ganz Südamerika zutiefst verhasst. Freiwillig würden die Gouverneure einem solchen Pakt kaum zustimmen.
Die Gouverneure brauchen das Geld aus Buenos Aires
Dennoch haben sich einige Gouverneure schon positiv zum Pakt geäussert. Der Grund: 80 Prozent ihrer Ausgaben entfallen auf Personal. 90 Prozent ihres Etats bekommen sie von der Bundesregierung, die jetzt den Hahn zugedreht hat. Sie fürchten, dass ihnen das Geld ausgeht. Wenn sie ihre Beamten nicht mehr bezahlen, dann bröckelt ihre politische Basis. Zudem spüren sie, dass Milei bei vielen Wählern populär ist.
Auch wichtig für Mileis Popularität ist, dass der politische Gegner geschwächt ist. In Umfragen der drei führenden Institute kommt immer wieder heraus: Die Mehrheit der Bevölkerung hegt einen Groll gegen die Peronisten, die mit wenigen Unterbrechungen nun fast sechzig Jahre regiert haben. Viele Argentinier betrachten die Peronisten als schuldig am Abstieg des Landes.
Die Peronisten geben derzeit ein klägliches Bild ab: Die Justiz zieht die Schlinge enger um die Ex-Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Gegen die graue Eminenz der Partei laufen mehrere Verfahren wegen Korruption. Andere führende Peronisten suchen ihr privates Glück abseits der Politik: Sergio Massa, der gegen Milei unterlegene Präsidentschaftskandidat, hat bei Greylock Capital Management, einem amerikanischen Hedge-Fund, angeheuert. Sein Bürochef ist beim IMF nun der Landesvertreter Argentiniens.
So ist es kein Wunder, dass Mileis Attacken auf «die Kaste» weiterhin populär sind unter den Argentiniern – und dem Anarchokapitalisten seine Popularität sichern.