Das Verteidigungsministerium in Berlin offenbart die mutmasslichen Kosten für ein Prestigeprojekt von Boris Pistorius. Was sich wie eine Hiobsbotschaft liest, könnte Teil eines Plans des Wehrressort-Chefs sein, mehr Geld für die Bundeswehr herauszuschlagen.
Deutschlands liberaler Finanzminister Christian Lindner arbeitet derzeit am Haushalt für das kommende Jahr. Dazu lässt er sich die Budgetplanungen der einzelnen Bundesministerien vorlegen. Es geht ums Geld – und da sieht es beim Wiederaufbau der deutschen Verteidigungsfähigkeit zunehmend schwierig aus. Boris Pistorius, der sozialdemokratische Verteidigungsminister, ist daher jüngst in die Offensive gegangen.
Der vorläufige Höhepunkt erfolgte am Mittwoch im Verteidigungsausschuss des Bundestags. Da bezifferte ein Mitarbeiter des Wehrressorts erstmals die Kosten für die deutsche Kampfbrigade in Litauen. 11 Milliarden Euro, heisst es, seien für die Stationierung von gut 5000 Soldaten aus zwei Bataillonen einschliesslich Unterstützungskräften zu veranschlagen.
Seitdem fragen sich die Fachleute, woher das Geld kommen soll. So sagte etwa der Fraktionsvize der oppositionellen Union im Bundestag, Johann Wadephul, ihm sei angesichts der beträchtlichen Summe allein für die Brigade schleierhaft, wie die Regierung einen tragfähigen Verteidigungshaushalt aufstellen wolle.
Die Litauen-Brigade ist das Kernprojekt der Amtszeit von Verteidigungsminister Pistorius. Die Idee stammt ursprünglich von Bundeskanzler Olaf Scholz. Pistorius griff sie auf und verkündete die Stationierung selbst für die meisten Mitarbeiter seines Hauses und des Bundestags überraschend im Juni 2023 auf einer Reise in die litauische Hauptstadt Vilnius. Auf die Frage, wie er diese Brigade finanzieren wolle, pflegte Pistorius bisher zu antworten, einen Grossteil der Kosten übernähmen die Litauer.
Lob aus der Nato
Es ist das erste Mal in ihrer Geschichte, dass die Bundeswehr einen Kampfverband dauerhaft im Ausland stationiert. Pistorius und andere Politiker bringen die Entscheidung immer wieder in Zusammenhang mit der Truppenstationierung der Alliierten auf deutschem Boden im Kalten Krieg. Nun sei es an Deutschland, seinen Verbündeten militärisch beizustehen. Litauen hatte eindringlich um eine dauerhafte Präsenz der Bundeswehr gebeten, weil sich das Land massiv von Russland bedroht sieht. Auch innerhalb der Nato hatte die deutsche Regierung für ihre Initiative viel Lob geerntet.
Anfang April dieses Jahres brach ein Vorkommando der Brigade nach Vilnius auf. Im nächsten Jahr soll der Verband offiziell aufgestellt werden. Bis 2027 sollen Truppen, Waffen und Gerät des Panzergrenadierbataillons 122 aus Oberviechtach in Bayern und des Panzerbataillons 203 aus Augustdorf in Nordrhein-Westfalen sowie die in Litauen bereits seit Jahren stationierte Battlegroup der Bundeswehr zur Litauen-Brigade verschmolzen und einsatzbereit sein.
Doch noch immer sind zentrale Fragen der Finanzierung ungeklärt. Nach der Sitzung des Verteidigungsausschusses am Mittwoch berichteten Teilnehmer, es sei weiter unklar, wer die Kosten für den Bau von Unterkünften und militärischer Infrastruktur für die Soldaten und deren Angehörige einschliesslich Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen übernehme. Bisher hatte das Verteidigungsministerium erklärt, dafür kämen die Litauer auf.
Dass Pistorius das Preisschild für die deutsche Kampfbrigade im Baltikum gerade jetzt offenbart, dürfte seinen Grund in den anlaufenden Haushaltsverhandlungen der deutschen Regierungskoalition haben. Scholz und sein Kabinett müssen letztmalig in dieser Legislaturperiode den Etat aufstellen, der noch vom aktuellen Parlament beschlossen wird. Im kommenden Jahr stehen dann die Bundestagswahlen an. Das übliche Gerangel um das Geld hat längst begonnen. Während sich Finanzminister Lindner von den Liberalen nach wie vor sträubt, die Schuldenbremse zu lockern, plädieren Grüne und Sozialdemokraten für höhere Schulden.
100 Milliarden sind aufgebraucht
Die finanzielle Lage erweist sich als zunehmendes Risiko für die «sicherheitspolitische Zeitenwende». Verteidigungsminister Pistorius weiss das und liess in jüngster Zeit zwei Zahlen verlauten. Die eine – 99,99 Milliarden – beziffert den Umfang, in dem das Sondervermögen der Bundeswehr inzwischen verplant ist. Damit wollte der Minister den Kabinettskollegen und der Öffentlichkeit kundtun, dass die 100 Milliarden nahezu aufgebraucht seien.
Die andere – 6,5 Milliarden – gibt den Mehrbedarf der Bundeswehr im kommenden Haushaltsjahr an. Statt der bisher veranschlagten 52 Milliarden Euro benötige er mindestens 58,5 Milliarden, um den Weg zur Verteidigungsfähigkeit der Streitkräfte weitergehen zu können. Auch im Vorjahr hatte Pistorius versucht, mehr Geld für den regulären Wehretat herauszuschlagen. Damals forderte er 10 Milliarden – und bekam gut 2 Milliarden. Sie dienten allerdings dazu, die durch den Tarifabschluss entstandenen Mehrkosten für das Personal aufzufangen.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2023 dürfte es Pistorius in diesem Jahr noch schwerer fallen als im Vorjahr, mehr Geld zu bekommen. Das Gericht hatte die Absicht der Bundesregierung für unzulässig erklärt, nicht verwendete Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro aus dem Corona-Fonds in den Klima- und Transformationsfonds zu verschieben. Damit ist der Spielraum für die sozialen und klimapolitischen Ziele der Regierungskoalition deutlich kleiner geworden. Höhere Verteidigungsausgaben hätten nun zur Folge, dass Sozialdemokraten und Grüne noch weitere Abstriche bei Sozial- und Klimapolitik machen müssten. Das war schon im vorigen Jahr, als das Verfassungsgericht sein Urteil noch nicht gefällt hatte, mit den beiden Parteien nicht zu machen.
Verteidigungsminister Pistorius hat daher jüngst eine weitere Idee ins Spiel gebracht. Notwendige Mehrausgaben für die Bundeswehr sollten von der Schuldenbremse ausgenommen werden, schlug er vor. Der Finanzbedarf der Streitkräfte sei so gross, dass Umschichtungen im Haushalt nicht genügen würden. Von den Liberalen kam sogleich Widerspruch. Dies sei kein gangbarer Weg, sagte der FDP-Fraktionschef Christian Dürr. Es müssten eben Prioritäten gesetzt werden, um mit dem vorhandenen Geld verantwortungsvoll umzugehen.
Sondervermögen wird zweckentfremdet
Die Frage lautet, was unter «notwendigen Mehrausgaben» für die Bundeswehr zu verstehen ist. Das Problem des Verteidigungsministers besteht nicht nur darin, dass das Sondervermögen im Grunde aufgebraucht ist. Nach einer Gesetzesänderung im vorigen Jahr hat er es zudem mit Ausgaben versehen, die gar nicht aus dem Sonderetat finanziert werden sollten. Wie aus dem Haushaltsfinanzierungsgesetz 2024 hervorgeht, handelt es sich dabei unter anderem um Baumassnahmen, Munitionsbeschaffung und Investitionen in die militärische Logistik. Ursprünglich war das Sondervermögen ausschliesslich dafür vorgesehen, den Kauf von Grosswaffensystemen zu finanzieren.
Weil der reguläre Wehretat keine Spielräume mehr lässt, hat das Verteidigungsministerium inzwischen so viele «andere Ausgaben» in das Sondervermögen verschoben, dass zahlreiche Grosswaffensysteme, etwa zwei Schiffe der Fregatten-Klasse 126 oder der Nachfolger des Transportpanzers Fuchs, daraus nicht mehr komplett finanzierbar sind. Ab 2028, wenn das Sondervermögen aufgebraucht ist, müssen sie aus dem regulären Haushalt bezahlt werden. Dieser gibt das bisher aber nicht her. Pistorius hat daher bereits vor einem «Rüstungsstopp» gewarnt, sollte er nicht mehr Geld bekommen.
Doch seine Finanzprobleme dürften eher noch wachsen. Das Kampfflugzeug F-35 ist eines der Grossprojekte im Sondervermögen. Seit dem Frühjahr 2022 steht fest, dass Deutschland 35 Jets dieses amerikanischen Typs als Ersatz für den Tornado beschaffen will. Allerdings ist bis heute nicht klar, wie viel die 35 Maschinen genau kosten sollen. Das Beschaffungsamt der Bundeswehr hat im Dezember 2022 zwar das Vertragsangebot der US-Regierung unterzeichnet, die Kosten aber sind bis heute unklar.
Viele Fragezeichen bei der F-35
Das Verteidigungsministerium teilte der NZZ zwar auf Anfrage mit, man gehe bis jetzt von Kosten in Höhe von 8,3 Milliarden Euro aus. Doch diese Zahl ist unverbindlich. Deutschland kauft die F-35 nicht direkt vom Hersteller, sondern im Rahmen des «Foreign Military Sales»-Programms von der US-Regierung. Dabei ist es nicht unüblich, dass die Amerikaner erst nach einem grundsätzlichen Vertragsschluss den exakten Preis nennen. «Wir wissen bisher nicht, was die F-35 genau kosten werden», sagt Ingo Gädechens, Haushaltsfachmann der oppositionellen Union.
Doch es ist nicht nur der Kostenaspekt, der Fragen zum F-35 aufwirft. Gädechens beklagt, dass nach wie vor auch eine ganze Reihe von Verträgen für das Flugzeug fehlten. Sie seien ursprünglich für 2023 angekündigt, aber immer noch nicht geschlossen worden. Das Verteidigungsministerium halte sich mit Aussagen über die Gründe auffällig zurück.
Selten in der Geschichte der Bundeswehr sind die Beschaffungskosten für Grosswaffensysteme im ursprünglich prognostizierten Rahmen geblieben. Es dürfte nicht verwundern, wenn das einer der Gründe für die derzeitige kommunikative Zurückhaltung des Ministeriums bei der F-35 ist – und Boris Pistorius bald ein weiteres Finanzierungsproblem offenbaren muss.