Hautfarbe, Herkunft oder Alter: Phenotyping gilt als eine der grossen Neuerungen für die Polizeiarbeit. Doch wie viel bringt es?
Es ist Herbst 2021, als Justizministerin Karin Keller-Sutter in den Ständerat tritt und über den Mord an einer Psychoanalytikerin im Zürcher Seefeld und jenen an einem Ehepaar im bernischen Laupen spricht. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich eine der aufwendigsten Ermittlungen der Schweizer Kriminalgeschichte in einer Sackgasse.
Es sind zwei Tötungsdelikte, die so viele Rätsel aufgeben wie selten ein Kriminalfall.
Am 15. Dezember 2010 war im Zürcher Seefeld eine Psychoanalytikerin erstochen aufgefunden geworden, fünf Jahre später ermordete jemand in der Berner Gemeinde Laupen ein Ehepaar auf brutale Weise. Den Fahndern fiel sofort ein unheimliches Detail auf: Beide Taten ereigneten sich an einem 15. Dezember.
Und beide Male fand sich die DNA der gleichen Person am Tatort. Sie stammte von einem Mann. Doch sie war in keiner Datenbank zu finden.
«Wer ist der Mystery-Mörder?», fragte der «Blick». Und die Tamedia-Zeitungen schrieben: «Die Polizei tappt im Dunkeln.»
Doch Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat Hoffnung: das Phenotyping von DNA-Proben. Ermittler können damit anhand von Blut, Sperma oder anderen Spuren am Tatort Aussagen über Haar-, Augen- und Hautfarbe sowie Alter und zur Herkunft einer Person machen.
Im Sommer 2023 ist es so weit: Das Phenotyping wird in der Schweiz zugelassen. «Ein Meilenstein für die Strafverfolgung», hält der Bund damals in einer Mitteilung fest.
Doch den Durchbruch im Fall Seefeld wird die Methode nicht bringen. Und es stellt sich die Frage: Wann ist Phenotyping überhaupt sinnvoll?
Ein brutaler Vergewaltigungsfall und ein unbekannter Leichnam
Seit 19 Monaten ist das Phenotyping in der Schweiz erlaubt. Damals hat der Bund das revidierte DNA-Profil-Gesetz in Kraft gesetzt. Nun zeigt sich: Die Methode kommt in der Schweiz erst selten zur Anwendung. Von den fünf Laboren, die ein Phenotyping durchführen dürfen, haben erst zwei Aufträge von Staatsanwaltschaften erhalten. Es handelt sich um die rechtsmedizinischen Institute in Lausanne und Zürich.
Schweizweit fünf Mal ist Genmaterial eines mutmasslichen Täters bisher auf Merkmale wie Haut- und Augenfarbe untersucht worden.
Einer der Fälle: der Vergewaltigungsfall von Emmen, einer der bekanntesten Cold Cases des Landes.
Eine 26-jährige Frau war im Sommer 2015 an der Reuss von einem Unbekannten vom Fahrrad gerissen und brutal vergewaltigt worden. Nicht nur die psychischen Folgen für das Opfer des Verbrechens waren dramatisch, auch die physischen: Die Frau wurde bei dem Angriff schwer verletzt und musste notfallmässig operiert werden. Wenige Tage später wurde klar, dass sie vom Hals an abwärts querschnittgelähmt bleibt.
Monatelang ging die Luzerner Polizei nach der brutalen Tat Hinweisen nach, verfolgte Angaben des Opfers nach, wertete Handydaten aus und bot über 300 Männer zu einem Massen-Gentest auf. Denn die Ermittler fanden die DNA des brutalen Vergewaltigers, doch einen Treffer gab es trotz aufwendiger Untersuchung nicht: Der Täter blieb ein Phantom. 2018 wurde das Verfahren vorläufig auf Eis gelegt.
Im Sommer 2023, kurz nachdem der Bund das Phenotyping zugelassen hatte, rollten die Luzerner Ermittler den Fall nochmals neu auf. Ob die Auswertung auf Haar-, Augen- und Hautfarbe neue Hinweise auf den Täter ergeben hat, darüber wollen die Strafverfolgungsbehörden keine Angaben machen. Klar scheint deshalb bloss: Den erhofften Durchbruch dürfte das Phenotyping bisher nicht gebracht haben.
In welchen weiteren Fällen ein Phenotyping zur Anwendung gekommen ist, dazu geben sich die Ermittlungsbehörden zugeknöpft. Die Zürcher Staatsanwaltschaft etwa schreibt auf Anfrage, man erteile keine Auskünfte darüber, in welchen Strafuntersuchungen welche konkreten Untersuchungsmassnahmen zum Einsatz gelangt seien.
Neben dem Vergewaltigungsfall von Emmen ist deshalb einzig bekannt, dass es in einem anderen Fall um die Identifizierung einer bis dahin unbekannten Leiche mittels der neuen Methode ging.
Hilfreich, wenn die Standardmethoden nichts bringen
Cordula Haas ist Abteilungsleiterin Forensische Genetik am Institut für Rechtsmedizin an der Universität Zürich. Haas beschäftigt sich seit Jahren mit der Analyse von DNA. Vier der fünf bisher in der Schweiz durchgeführten Phänotypisierungen sind an ihrem Institut gemacht worden.
Haas sagt: «Die Phänotypisierung kann dann hilfreich sein, wenn Ermittler mit ihren Standardmethoden nicht mehr weiterkommen.» Dafür müsse allerdings genügend Spurenmaterial zur Verfügung stehen, das zudem nicht mit dem anderer Personen vermischt sein dürfe.
Haas erwähnt den Mordfall Vaatstra. Die 16-jährige Niederländerin Marianne Vaatstra war 1999 im friesischen Kollum nachts auf dem Nachhauseweg brutal vom Fahrrad gerissen und vergewaltigt worden, bevor ihr der Täter die Kehle durchschnitt. Weil sich beim Tatort ein Asylzentrum befand, gerieten rasch Flüchtlinge ins Visier. Es kam zu ausländerfeindlichen Aufrufen, die Polizei stand unter massivem Druck.
In der aufgeheizten Stimmung griffen die Ermittler zu einer Methode, die in Europa damals noch nie angewendet wurde und verboten war: Sie untersuchten die DNA auf die Abstammung des Trägers. Das Ergebnis war eine Überraschung: Die Analyse zeigte, dass der mutmassliche Täter nordwesteuropäischer Abstammung gewesen sein muss. Schliesslich führten die Ermittlungen zu einem 45-jährigen friesischen Bauern.
Cordula Haas hebt die Möglichkeiten des Phenotypings hervor. Mithilfe des Phenotypings lasse sich ein Täterkreis einschränken oder wie im Fall Vaatstra ausschliessen. «Das Ergebnis ist umso hilfreicher für eine Ermittlung, je mehr sich der Kreis der Tatverdächtigen einschränken lässt. Die Kombination blaue Augenfarbe und braune Haare ist beispielsweise weltweit nicht sehr häufig.» Das erhöhe die Chance, einen Tatverdächtigen zu finden. «Nachweisen muss man eine Tat jedoch mit dem herkömmlichen DNA-Profil.»
Künftig könnten noch weitere Merkmale dazukommen. Ein Fahndungsbild, erstellt aus den DNA-Proben einer unbekannten Person: Das hält Cordula Haas deshalb für realistisch. «Jedes zusätzliche Merkmal trägt zum Gesamtbild bei. Es gibt jedoch komplexe Merkmale, etwa die Grösse einer Person, die schwierig vorherzusagen ist, da sehr viele Gene dazu beitragen.»
Für sehr erfolgversprechend hält sie die genetische Ahnenforschung. Man versucht dabei Tätern auf die Spur zu kommen, indem man die DNA mit genetischen Informationen von Stammbaum-Datenbanken vergleicht. Haas sagt: «Je mehr Personen in solchen Datenbanken sind, desto höher ist die Chance, auf verwandtschaftliche Beziehungen eines Täters zu stossen.»
Der Argwohn gegenüber Phenotyping bleibt bestehen
Doch auch 19 Monate nach Zulassung des Phenotypings weckt die Methode Argwohn, vor allem in linken Kreisen. In Zürich hat der Stadtrat kürzlich kritische Fragen von Gemeinderätinnen und Gemeinderäten der SP und der AL beantworten müssen. In ihrer schriftlichen Anfrage liessen die Politiker durchblicken, was sie von der Methode halten: nichts.
DNA-Phänotypisierungen seien nur dann hilfreich, wenn sie auf Angehörige von Minderheiten hinwiesen. «Ihre Ergebnisse – ein äusserst grober Steckbrief – sind jedoch gleichzeitig so ungenau, dass Bevölkerungsgruppen mit den gleichen Merkmalen als Ganzes unter Verdacht geraten», hielten die Gemeinderäte fest.
Die Befürchtung der linken Kritiker: ein legalisiertes Racial Profiling. Das Phenotyping trage dazu bei, rassistische Vorurteile über Kriminalität zu verstärken.
Zu den Skeptikern zählt auch der Zürcher Anwalt Stephan Bernard. Bis jetzt sei es zwar nicht zum befürchteten Dammbruch gekommen, sagt er. Allerdings sei nicht sicher, dass das Instrument auch künftig nur bei wenigen gravierenden Einzelfällen eingesetzt werde. Das zeige gerade der Umgang mit DNA-Profilen. Ende der achtziger Jahre sei noch argumentiert worden, man werde sie nur bei Kapitalverbrechen einsetzen.
Doch heute sehe es ganz anders aus: «Inzwischen werden DNA-Profile teilweise selbst bei Bagatelldelikten erstellt. Weshalb sollte das beim Phenotyping nicht auch passieren?», fragt Bernard. Zumal es dem Bund erlaubt sei, das Gesetz auf dem Verordnungsweg an neue Entwicklungen anzupassen. «Der sowieso schon gläserne Bürger – er wird noch ein bisschen gläserner.»
Wie wichtig die DNA bei Ermittlungen geworden ist, zeigen die Zahlen des Bundesamts für Polizei (Fedpol). Laut diesen wurden 2023 in der DNA-Profil-Datenbank Codis allein rund 9300 Personenprofile und 15 000 Tatortspuren registriert.
Ein Durchbruch ohne Phenotyping
Als bei den Tötungsdelikten im Zürcher Seefeld und im bernischen Laupen alle Spuren im Nichts verlaufen, diskutieren die Ermittler, das Phenotyping anzuwenden – in der Hoffnung auf neue Ansätze und Hinweise. Doch dann kommt es anders: Ein halbes Jahr nach der Zulassung der Methode erfolgt am 29. Januar 2024 der ersehnte Durchbruch. In Genf nehmen die Ermittler einen 45-jährigen Spanier bei der Einreise in die Schweiz fest.
Was der entscheidende Hinweis war, der zum Täter führte, dazu macht die Staatsanwaltschaft keine Angaben. Bisher kommuniziert wurde einzig: «Die umfangreichen Ermittlungen führten zu einer Person, die einen Bezug zu beiden Tatorten aufwies.» Die DNA, die man dem Mann habe abnehmen können, habe den gesicherten Spuren der beiden Tötungsdelikte zugeordnet werden können.
Sicher ist überdies, dass der Spanier zu den Zeitpunkten der Gewalttaten im jeweiligen Kanton wohnhaft war. Der für die Untersuchung verantwortliche Staatsanwalt Matthias Stammbach sagte deshalb gegenüber der NZZ: «Wir gehen davon aus, dass der Tatverdächtige die Opfer kannte.» Einen Bezug zwischen den Opfern habe es jedoch nicht gegeben.
Doch das Phenotyping spielte am Ende bei den Ermittlungen zu den Tötungsdelikten in Laupen und Zürich keine Rolle. Es sei in keiner Phase der Ermittlungen zur Anwendung gekommen, sagt Stammbach.
Der mutmassliche Täter sitzt inzwischen seit über einem Jahr in Untersuchungshaft. Ist er geständig? Warum hat er getötet? Und: War es ein Zufall, dass die zweite Gewalttat exakt fünf Jahre nach der ersten verübt wurde? Darüber macht die Staatsanwaltschaft bis jetzt keine Angaben. In dem Fall sind noch viele Rätsel zu lösen.