Im alawitischen Kernland kommt es zu einem blutigen Zusammenstoss, und in einigen Grossstädten gehen wütende Menschenmassen auf die Strasse. Wie stabil ist die Herrschaft der siegreichen Islamistenmiliz HTS?
Gänzlich kampflos geht der Machtwechsel in Syrien doch nicht vonstatten: Am Mittwoch wurden 14 Sicherheitsbeamte des neuen syrischen Regimes unter der Führung der islamistischen HTS-Miliz getötet. Das teilte am Donnerstag die syrische Nachrichtenagentur Sana unter Berufung auf das neue Innenministerium in Syrien mit. Laut diesen Angaben gerieten die Männer in einen «Hinterhalt der Überreste des Asad-Regimes». Das neue Regime kündigte daraufhin am Donnerstag eine Sicherheitsoperation in dem Gebiet an. Videos und Fotos in den sozialen Netzwerken zeigen Truppentransporte und Feuergefechte in der Region.
Die Sicherheitskräfte sollten in der Nähe der Küstenstadt Tartus einen ehemaligen General des gestürzten Asad-Regimes festnehmen. Dieser soll für Tausende von Todesurteilen im berüchtigten Foltergefängnis Saidnaya ausserhalb von Damaskus verantwortlich gewesen sein. Dies berichtete die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, eine in London ansässige oppositionelle Nichtregierungsorganisation. Bei dem Gefecht sollen auch drei Bewaffnete getötet worden sein, die die Festnahme verhinderten.
Tartus liegt im Kernland der Alawiten, jener Religionsgruppe, aus der auch der gestürzte Diktator Bashar al-Asad stammt. Es ist der härteste Widerstand gegen die neuen Machthaber, seitdem sie am 8. Dezember nahezu kampflos die syrische Hauptstadt Damaskus eingenommen haben. Aber nicht nur in Tartus brodelt es – auch in der Grossstadt Homs wurde am Mittwoch ein Mensch getötet, nachdem mehrheitlich Alawiten gegen die neuen HTS-Herrscher in Massen auf die Strasse gegangen waren. Ebenso kam es in anderen Städten im Zentrum und an der Küste des Landes zu wütenden Massendemonstrationen.
Toter bei Massendemonstrationen
Der Auslöser für die Demonstrationen war ein Video von HTS-Milizionären, das zeigt, wie diese bei ihrem Vormarsch einen alawitischen Schrein in Aleppo zerstörten. Es gab Berichte von Demonstrationen in Tartus, Banias, Latakia und Jableh. Der Demonstrant in Homs wurde laut der Beobachtungsstelle erschossen, nachdem Sicherheitskräfte des neuen Regimes das Feuer eröffnet hatten. Fünf weitere Personen sollen verwundet worden sein.
Als Reaktion auf die Demonstrationen ordneten Syriens neue Machthaber eine Ausgangssperre in der Stadt an und verlegten zusätzliche Truppen in die Stadt. Das syrische Informationsministerium griff laut der Nachrichtenagentur Reuters zudem stark in die Medienfreiheit ein: Nach den Protesten sei es verboten, «Nachrichten mit einer konfessionellen Färbung zu veröffentlichen, die darauf abzielen, Spaltungen zu vertiefen».
Noch kein komplettes Gewaltmonopol
Syriens neuer starker Mann, Ahmed al-Sharaa, konnte am Tag vor den blutigen Zusammenstössen allerdings einen Zwischenerfolg verbuchen. Der HTS-Führer, der früher unter seinem Kampfnamen Abu Mohammed al-Julani bekannt war, traf sich am Dienstag mit Vertretern verschiedener syrischer Milizen. Die Führer der bewaffneten Gruppen haben laut der staatlichen syrischen Nachrichtenagentur ihrer Selbstauflösung zugestimmt, die Kämpfer sollen Teil der neuen syrischen Armee werden.
Am vergangenen Sonntag hatte Sharaa klargemacht, dass die Entwaffnung aller Milizen in Syrien die erste Priorität seiner Übergangsregierung sei. «Wir werden keine Waffen ausserhalb der Hände des Staates erlauben», sagte der frühere Rebellenführer, der nun statt in Uniform fast ausschliesslich im dunklen Anzug auftritt. Dies treffe auf alle Rebellengruppen und auch auf die kurdisch-dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) zu, fügte Syriens neuer Machthaber hinzu. Die SDF gehören zu den engsten Verbündeten der USA in Syrien und trugen massgeblich zum Sieg über den Islamischen Staat bei.
Die SDF kämpfen weiterhin gegen die protürkischen Rebellen der Syrischen Nationalen Armee (SNA). Zu Beginn der Woche wurden 12 Kämpfer der SNA von der Kurdenmiliz östlich von Aleppo getötet. Zuvor hatte die SNA eine Offensive gegen die Kurden gestartet. Am Mittwoch schaltete sich auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ein: Falls die kurdischen Kämpfer in Syrien ihre Waffen nicht niederlegten, würden sie «begraben» werden.
Trotz anfänglichen Erfolgen zeigt sich: Die neue Herrschaft der islamistischen HTS-Miliz in Syrien bleibt fragil. Ein Gewaltmonopol hat sie noch nicht errungen – und ausländische Mächte stehen wieder bereit, um ihre Interessen auf syrischem Territorium durchzusetzen.