Ausgerechnet im verrufenen Norden von Frankreichs Hauptstadt findet ein Grossteil der Sommerspiele statt. Staat und Gemeinden investieren Milliarden – mit der Hoffnung, dass sich dort auch langfristig vieles ändert.
In weniger als 200 Tagen beginnen in Paris die Olympischen Sommerspiele. Mit dem Eiffelturm, dem Louvre und dem Arc de Triomphe als malerischen Kulissen verspricht die Stadt ein unvergessliches Spektakel. Bis zu 15 Millionen Besucher werden in der französischen Hauptstadt erwartet, 300 000 davon allein zur Eröffnungszeremonie, die am 26. Juli auf der Seine stattfindet.
Yanis interessiert das alles nicht. Der 33-Jährige, der seinen vollen Namen nicht nennen will, sitzt an diesem grauen Nachmittag an einer Bushaltestelle in L’Île-Saint-Denis und macht Pause. «Bei uns werden die sicher nicht einkaufen», sagt der Mann in schwarzen Schuhen, schwarzen Hosen und einem überdimensionierten schwarzen Kapuzenpulli. Dieser täuscht darüber hinweg, dass Yanis für einen Sicherheitsmann relativ schmächtig ist. Er arbeitet im Supermarkt um die Ecke.
Die Spiele seien für die Touristen und die Leute aus Paris, sagt er und beschreibt das wie eine ferne Welt. Dabei trennen den Mann gerade einmal sieben Kilometer Luftlinie von den Wahrzeichen der Hauptstadt. Und an kaum einem Ort sind die Spiele schon so sichtbar wie rund um diese Flussinsel im Norden von Paris. Mindestens drei Milliarden Euro lässt sich die Metropole das Grossereignis kosten, fast 80 Prozent der öffentlichen Gelder fliessen in Bauvorhaben nördlich der Stadt.
Ein modernes Dorf in der Banlieue
L’Île-Saint-Denis ist die kleinste der drei Gemeinden, in denen das olympische Dorf entsteht. Im Sommer wird es zur temporären Heimat für fast 15 000 olympische und paralympische Athleten und ihre Betreuer. Ihm mussten alte Lagerhallen und baufällige Gebäude weichen, auf einer Fläche von 52 Hektaren.
Einige Bagger sind noch immer am Werk, Bauschutt säumt das Trottoir, und lautes Gehämmer dringt aus der Baustelle, wo künftig der Eingang zur Wohnanlage auf der Insel sein wird. Die letzten Nägel müssen bald eingeschlagen sein, denn die Zeit drängt, Ende März werden die Schlüssel offiziell an das olympische Organisationskomitee von Paris übergeben.
Ein Grossteil der Gebäude ist schon fertig. Nach den Spielen soll die Überbauung mit eigenem Park, Restaurants und Sportfeldern umgenutzt werden. Dann bietet sie Platz für 6000 Bewohner und Büroflächen für 6000 Angestellte. Der ursprüngliche Plan, 40 Prozent der Unterkünfte als Sozial- oder Studentenwohnungen zu nutzen, wurde bereits vom Bauherrn Solideo revidiert. Solideo ist die öffentliche Baufirma, die eigens vom französischen Staat und von den olympischen Gemeinden gegründet wurde, um die Bauvorhaben für die Olympischen Spiele durchzuführen. Nur noch jedes vierte Apartment soll eine Sozialwohnung sein, der Rest wird verkauft. Die Quadratmeterpreise belaufen sich auf rund 7000 Euro.
Die moderne Überbauung könnte also nicht nur der schönen Aussicht flussabwärts wegen genauso gut in Zürich an der Limmat oder in München an der Isar stehen. Wären da nicht die Nachbarschaft und ihr notorisch schlechter Ruf.
Olympia im «gefährlichsten» Département Frankreichs
Die Gemeinden L’Île-Saint-Denis, Saint-Ouen und Saint-Denis, wo die olympischen Unterkünfte gebaut werden, gehören zum «neuf-trois». Mit 93 beginnen die Postleitzahlen von Seine-Saint-Denis, dem ärmsten Département in Frankreich, abgesehen von den Überseegebieten. Hier leben überdurchschnittlich viele Menschen unter der Armutsgrenze, und die Anzahl der Sozialwohnungen pro Einwohner ist nirgendwo höher.
Die Arbeitslosenquote zählt zu den höchsten im Land, besonders hoch ist sie mit etwa 30 Prozent unter den bis 24-Jährigen. In keinem anderen Département gibt es mehr Einwanderer als hier. Jeder dritte der rund 1,7 Millionen Bewohner ist zugewandert, und das Département wächst. Seine-Saint-Denis hat eine der höchsten Geburtenraten in Frankreich, nur in den französischen Überseegebieten kommen jährlich mehr Babys zur Welt.
In Frankreich ist das Département aber vor allem berüchtigt, weil es seit Jahren den Spitzenplatz in der Kriminalitätsstatistik besetzt. Im vergangenen Jahr wurden täglich 427 Delikte registriert. Im Ausland kennt man Saint-Denis spätestens seit den Terroranschlägen vom November 2015. Die Attentate begannen am Stade de France, dem berühmten Stadion Frankreichs, das in Saint-Denis liegt. Ein Teil des Terrorkommandos verschanzte sich später in einer Wohnung unweit des Stadions.
Das Stade de France wird nun auch zu einem Hauptschauplatz für die Olympischen Spiele, es dient als Austragungsort der Leichtathletikwettkämpfe. Ein Grossteil der Neubauten für den Grossanlass befinden sich ausserdem in Seine-Saint-Denis.
Neben dem Stade de France entstand ein neues Wassersportzentrum, wo im Sommer die Wettkämpfe im Turmspringen, Wasserball und Synchronschwimmen stattfinden. Weiter nördlich werden in Le Bourget und Dugny ein neues Kletterzentrum und ein olympisches Dorf für über 1500 Medienschaffende gebaut. Die Boxwettkämpfe finden ebenfalls im Norden des Département statt. Und gleich hinter dem Boulevard périphérique, der Ringautobahn, die wie eine Grenze zwischen der Banlieue und der Innenstadt von Paris verläuft, werden in der Arena La Chapelle Badminton- und Gymnastikwettkämpfe ausgetragen.
Die Innenstadt zieht gegen Norden
Die Veränderungen, die die Spiele in das Département bringen, lösen schon jetzt Diskussionen aus. Kritiker der Bauvorhaben haben sich im Comité de vigilance JO 2024 zusammengeschlossen. Sie befürchten, dass die Gentrifizierung der Region mit Olympia Fahrt aufnimmt und die ärmere Bevölkerung verdrängt wird. Schon vor Olympia nahmen die modernen Neubauten in den Gemeinden, die an die Pariser Innenstadt angrenzen, zu, die Mieten stiegen entsprechend an.
Dass sich das Département durch die Spiele wandeln soll, verhehlen die lokalen Politiker nicht. Der sozialistische Präsident des Conseil départemental, Stéphane Troussel, spricht von Olympia als «der Gelegenheit», um die Transformation der Region voranzutreiben, und sein Parteikollege Mathieu Hanotin, der als Bürgermeister in Saint-Denis amtet, will dem Ort mit den Spielen ein neues Gesicht verleihen. Die Gemeinde soll in nicht allzu ferner Zukunft mehr an ein Arrondissement in der Pariser Innenstadt als an eine notorisch verrufene Banlieue erinnern.
Dazu gehört auch, dass Seine-Saint-Denis endlich auch mit dem öffentlichen Verkehr besser erreichbar sein soll. Das erklärte Ziel des olympischen Organisationskomitees von Paris (Cojob) ist es, dass alle Zuschauer mit dem öffentlichen Verkehr, zu Fuss oder mit dem Velo zu den Stätten gelangen. Damit das gelingt, hatte das Cojob bei der Bewerbung um die Spiele 2015 einen umfassenden Transportplan vorgelegt. Dieser umfasst auch den Grand Paris Express, der die Vororte von Paris miteinander verbinden soll.
«Das grösste Infrastrukturprojekt Europas» sieht 200 Kilometer neue U-Bahn-Strecken und die Errichtung von 68 neuen Stationen vor. Für die Olympischen Spiele sollten die nördlichen Abschnitte der neuen Linien 14, 15, 16 und 17 fertig werden.
Die Umsetzung dieser Pläne verlangt Stadt und Bewohnern einiges ab. Das Pariser U-Bahn-Netz ist eine grosse Baustelle. Beinahe täglich ändern die Ansagen, welche Linie gerade wegen Bauarbeiten geschlossen ist. Mindestens verwirrt ziehen die Fahrgäste weiter und treffen sich viel näher, als einem lieb sein kann, in den völlig überfüllten Waggons der übrig gebliebenen Strecken wieder.
Noch ist unklar, ob die neuen Streckenabschnitte, die zu den Spielstätten führen, im Sommer wirklich in Betrieb genommen werden können. Klar ist allerdings schon, dass die Ticketpreise für diejenigen, die kein Abonnement für den städtischen Verkehr haben, für die Dauer der Spiele teilweise mehr als verdoppelt werden. Die Logik des Verkehrsbetriebs: Die auswärtigen Besucher sollen die Investitionen von rund 200 Millionen Euro, die die Pariser Verkehrsbetriebe allein für die Spiele tätigen, mitfinanzieren.
Der Sicherheitsapparat macht mobil
Der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ist notwendig, auch wegen des Sicherheitskonzepts, das Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin und der Pariser Polizeichef Laurent Nuñez Ende letzten Jahres vorgestellt haben. Der motorisierte Verkehr wird stark eingeschränkt, am stärksten betrifft das die Innenstadt und die Umgebung um die Wettkampfstätten. Dort gelten strenge Einlasskontrollen. In der sogenannten roten Zone bei den Spielstätten dürfen Autos nur mit Sondergenehmigung passieren, Anwohner und Besucher müssen durch eine Polizeikontrolle.
30 000 bis 40 000 Sicherheitskräfte und rund 20 000 Armeeangehörige sind für die Spiele aufgeboten, sie kommen aus ganz Frankreich. Damit die auswärtigen Mitarbeiter während der Spiele ihren Dienst tun können, werden Kasernen leer geräumt, und auch Studenten müssen ihre Unterkünfte dem anrückenden Personal zur Verfügung stellen. Neben zusätzlichen Ordnungshütern setzt die Regierung auf technische Hilfe. Die Metropolregion wird während der Spiele flächendeckend mit Video überwacht, und über den olympischen Stätten werden ständig Überwachungsdrohnen kreisen.
Das massive Polizeiaufgebot ist das Einzige, was Yanis an den Spielen beunruhigt. «Ich will keine Scherereien», sagt der Sicherheitsmann. Was er damit meint, mag er nicht sagen. Seit November läuft in Seine-Saint-Denis die von Innenminister Darmanin propagierte Operation «Territoire zéro délinquance». Auch sind bereits jetzt die Polizeipräsenz und Kontrollen verstärkt worden. Laut der Polizei ist das Ziel der Operation, «Kriminalitätsnester» in der Metropolregion vor den Olympischen Spielen auszurotten. Der Pariser Polizeichef Laurent Nuñez erklärte kürzlich, die Operation verlaufe höchst erfolgreich, die Zahl der Delikte in Seine-Saint-Denis sei stark zurückgegangen.
Damit ausser Baulärm etwas Dauerhaftes bleibt
Vor allem bei den Jungen bestätigten die Polizeiaktionen aber einmal mehr das Gefühl, dass der Staat sie nicht haben will, schon gar nicht bei den Olympischen Spielen: «Die Jungen hier haben kein Vertrauen in die Institutionen und glauben schlicht nicht daran, dass auch sie von den Spielen profitieren können», erklärt Karima Ouldache. Dabei gelte es, die Gelegenheit jetzt zu nutzen, wenn ausser dem Baulärm noch etwas Dauerhaftes von Olympia bleiben solle. Ouldache arbeitet für die Organisation Job Odyssée, die Menschen in den Gemeinden von Seine-Saint-Denis bei der Arbeitssuche hilft.
Der gemeinnützige Verein wird getragen von Sportverbänden und Unternehmen, die sich soziales Engagement auf ihre Fahne schreiben. Der Fachkräftemangel, der durch die Spiele besonders eklatant wird, hilft: «Überall fehlt es an Personal, es braucht Leute, vor allem aus Seine-Saint-Denis. Für sie muss man nicht noch extra eine Wohnung in Paris organisieren», sagt Ouldache.
Der Verein, der seit acht Jahren besteht, ist in den lokalen Sportklubs des Département verankert. Am Rand von Boxduellen, Rugby- oder Fussballmatches werden Teilnehmer dazu animiert, in den Räumen der Organisation in Rosny-sous-Bois vorbeizukommen.
Dort erhalten an diesem Morgen gerade ein Dutzend junger Männer eine Einführung in den Ablauf eines Bewerbungsprozesses. Erklärt wird nicht nur, was es braucht, um sich einen Job zu sichern, und welche Regeln dabei gelten. Es wird ihnen auch gesagt, dass es sie brauche. Die Gespräche reichen von den Tücken bei Online-Bewerbungs-Masken, korrektem Auftreten und Verhalten im Team bis zum Lernen von jobspezifischen Begriffen und Abläufen. Allein im vergangenen Jahr hat der Verein 12 000 Kandidaten begleitet, etwa 1500 hatten danach eine Anstellung.
Frankreichs Traditionsunternehmen brauchen Personal
Job Odyssée kooperiert dabei hauptsächlich mit den grossen französischen Eisenbahnkonzernen SNCF und RATP, die die Metro und die Regionalzüge in und um Paris betreibt. Die Transportunternehmen bieten langfristige Verträge, weitreichende Sozialleistungen und ein Ausbildungsprogramm. Der öffentliche Verkehr wird nicht nur im Sommer bei den Olympischen Spielen an seine Kapazitätsgrenzen kommen. Der Ausbau des gesamten ÖV-Netzes in der Region führt dazu, dass für die kommenden Jahre nach Zugführern, Mechanikern, Ingenieuren, Service- und Sicherheitspersonal gesucht wird. Dabei setzen die Firmen auch vermehrt auf ungeschultes Personal – und grosse Rekrutierungmessen im Umland von Paris.
Die SNCF hat dafür an diesem Februartag das Stade de France angemietet. Rund 2000 Kandidaten haben sich angemeldet und einen Lebenslauf eingereicht, der sie zum Einlass in Frankreichs Nationalstadion berechtigt. Für viele hier ist es das erste Mal, dass sie überhaupt einen Fuss ins Stade de France setzen können. Die Ticketpreise für den Einlass übersteigen oft selbst das Budget von gutverdienenden Parisern.
Unter den Bewerbern ist auch Sidibé Ibra. Leicht nervös wartet der 27-Jährige, der nördlich von Saint-Denis lebt, in einer Schlange, die zu einem Raum für Bewerbungsgespräche führt. 900 Bewerber sollen heute für den weiteren Prozess rekrutiert werden. Ibra hat bisher als Tapezierer und Bauarbeiter in der Region gearbeitet. Das waren kurzfristige Gelegenheitsjobs, jetzt will er Sicherheitsmann werden. Die brauche es immer, nicht nur für die Olympischen Spiele. Ausserdem sei man dabei ständig draussen und in Bewegung, erklärt er.
Womöglich ist er im Sommer tatsächlich bei den Spielen dabei. Ibra hat an diesem Tag die erste Hürde überwunden, er ist im Bewerbungsprozess eine Runde weiter.
Mitarbeit Satellitenbilder: Jessica Eberhart, Roland Shaw