Lange dominierten die Gegner die Schlagzeilen, nun wollen die Befürworter in der Wirtschaft endlich Farbe bekennen.
Eigentlich wollte sich Economiesuisse, der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, erst Anfang September zu den geplanten Verträgen mit der EU äussern. Erwartet wird, dass der Bundesrat das Paket mit den neuen und aufdatierten bilateralen Abkommen am 13. oder 20. Juni in die Vernehmlassung schickt. Economiesuisse hätte also knapp drei Monate Zeit, um die Verträge plus die Verordnungs- und Gesetzesanpassungen zu studieren. Insgesamt soll das Paket etwa 1500 Seiten umfassen.
Schon das wäre ein sportlicher Terminplan. Noch selten musste sich die Schweizer Politik mit einer Vorlage von solchen Dimensionen befassen. Die Materie ist politisch aufgeladen, und sie ist technisch komplex, die Palette reicht von der Personenfreizügigkeit oder der Lebensmittelsicherheit bis zu Finessen der Stromversorgung. In Bern ist zu hören, dass das Paket, das den bilateralen Weg sichern soll, die Änderung von siebzehn Gesetzen und noch mehr Verordnungen sowie mehrere Kredite umfassen wird.
Doch die Spitze von Economiesuisse erhöht das Tempo. Wie erst jetzt bekannt wird, will der Vorstand die Position bereits am 10. Juli festlegen. Dass der Beschluss höchstwahrscheinlich zustimmend ausfallen wird, ist keine Überraschung. Der Verband hat sich zwar in der Vergangenheit kritisch zu einzelnen Punkten geäussert, das Verhandlungsmandat aber stets unterstützt. Gleichzeitig betonte der Präsident Christoph Mäder, eine Gesamtbeurteilung sei erst möglich, wenn das ganze Paket vorliege. Dies ist erst der Fall, wenn die Vernehmlassung beginnt.
Aber wer kann in so kurzer Zeit 1500 Seiten lesen und verarbeiten? Die hundert Branchenverbände und zwanzig kantonalen Handelskammern, die zu Economiesuisse gehören, müssen sich sputen, wenn sie sich an der internen Positionierung beteiligen wollen. Voraussichtlich haben sie zwei oder drei Wochen Zeit, um das europapolitische Epos zu studieren und zu einem Entschluss zu kommen.
Keller-Sutter macht Druck
Economiesuisse betont auf Anfrage, man lege Wert auf eine fundierte Diskussion und einen breiten Einbezug der Mitglieder. Sie sollen in der Vernehmlassung konsultiert werden. So handelt es sich bei dem Entscheid, der im Juli fallen soll, lediglich um eine «erste Beurteilung» und eine «Grundsatzposition».
Gleichwohl ist allen klar, dass es kein Zurück mehr gibt. Sagt der Verband vor den Sommerferien Ja, kann er danach kaum mehr Nein sagen. Dennoch scheint der beschleunigte Fahrplan im Vorstand kaum auf Gegenwehr gestossen zu sein. Mutmasslich hat etwa die SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher – ihres Zeichens Vorstandsmitglied von Economiesuisse – wenig Freude an der vorgezogenen Positionierung des einflussreichen Verbands. Doch sie will sich auf Anfrage nicht zu dem Thema äussern.
Das Motiv der Befürworter wiederum ist klar: Politisch und medial dominierten lange die Gegner des Pakets die Debatte. Allen voran die SVP, aber auch namhafte Köpfe aus der Wirtschaft kämpfen seit Monaten offen gegen die Abkommen, deren genauen Text sie auch noch nicht kennen. Hingegen gibt es abgesehen von den Grünliberalen kaum Akteure, die ebenso entschlossen für die neuen Verträge werben.
Das sorgte für Unmut bis in den Bundesrat. «Wir machen das für die Schweizer Wirtschaft. Für sie wollen wir den Marktzugang sichern», konstatierte die Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter Ende Januar in den Tamedia-Zeitungen. Bei Economiesuisse ist die Botschaft angekommen. Man will vorwärtsmachen und Farbe bekennen. Nur: Ist das so rasch möglich, ohne unglaubwürdig zu werden?
Lebensmittelbranche will raschen Entscheid
Vieles sei bereits bekannt, betont Economiesuisse. Der Verband verweist auf das Mandat sowie die Faktenblätter, in denen der Bundesrat die Verhandlungsresultate Ende 2024 zusammengefasst hat. Auf Basis dieser Vorinformation seien die Details leichter aufzuarbeiten. Kommt hinzu, dass der Bund bereits zu den Sondierungen mit der EU einen ausführlichen Bericht vorgelegt hatte. Ob Economiesuisse Anwälte oder andere externe Experten zur Beurteilung der Verträge beiziehen wird, lässt der Verband offen.
Zuversichtlich klingt jedoch auch einer der Mitgliederverbände, der laut Kritikern des Pakets angeblich skeptisch sein soll: die Föderation der Schweizerischen Nahrungsmittel-Industrien (Fial). Die Bilateralen seien für die Lebensmittelwirtschaft sehr wichtig, und man stelle bereits eine Erosion fest. Die Fial werde das Paket im Detail prüfen, eine Stärkung der Bilateralen sei aber «klar in unserem Sinn». Es sei wichtig, dass sich auch potenziell unterstützende Stimmen frühzeitig positionierten und das Feld nicht den Gegnern überliessen. Die Fial werde Ressourcen bereitstellen, um das Paket schnellstmöglich zu prüfen und zu einer ersten, provisorischen Einschätzung zu kommen.
Auch wenn sich mit Economiesuisse einer der wichtigsten Verbände der Wirtschaft festlegt, bleibt offen, wie sich die anderen Akteure verhalten. Relativ klar ist, dass sich der Arbeitgeberverband weiterhin eng mit Economiesuisse abstimmen wird. Mehr Spannung versprechen die Diskussionen beim Gewerbeverband, weil in der KMU-Wirtschaft die Interessen stärker divergieren. Für Firmen, die auf den Binnenmarkt orientiert sind, ist die direkte Bedeutung der bilateralen Verträge kleiner als für Branchen, die vom Export leben.
Kenner des Gewerbes rechnen mit einer lebhaften Debatte. Sobald die Unterlagen vorliegen, will der Verband die interne Diskussion mit allen Branchen und Kantonalverbänden führen. Über die Positionierung soll die Gewerbekammer, das «Parlament» des Verbands, im Herbst entscheiden. Es könnte knapp werden, zumal die Gewerbekammer relativ viele «politische» Mitglieder aufweist, unter ihnen auch SVP-Exponenten.
FDP und Mitte lösen ihr Problem sehr verschieden
Zeit lässt sich auch die Partei, die der Wirtschaft am nächsten steht: Die FDP will ihre Position ebenfalls erst im Herbst festlegen. Auch hier ist eine kontroverse Debatte zu erwarten, manche Freisinnige sind hin- und hergerissen zwischen den Interessen der Exportwirtschaft und den politischen Bedenken rund um Rechtsübernahme und Zuwanderung. In einer ähnlich ungemütlichen Lage ist die Mitte-Partei. Damit hat es sich aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten.
Die zwei Parteien verfolgen angesichts der internen Differenzen sehr unterschiedliche Strategien. Die Mitte will im kleinen Kreis über den Kurs der Partei entscheiden: Das letzte Wort wird das Parteipräsidium haben, das zwölf Personen umfasst. Die jüngsten Stellungnahmen der Mitte zu dem Paket fielen eher wohlwollend aus. Auch Philipp Matthias Bregy, der gute Chancen hat, neuer Parteichef zu werden, hat sich vor wenigen Tagen im «Blick» positiv geäussert («gute Basis für eine positive Diskussion»).
Anders läuft es in der FDP: Die Freisinnigen planen eine offene Ausmarchung an einer Delegiertenversammlung. Diese soll im Oktober stattfinden. Damit ist zumindest eines klar: Im Gegensatz zur SVP, die dem Bundesrat unterstellt, er wolle das EU-Paket mit einer Vernehmlassung in den Sommerferien unter dem Radar der Öffentlichkeit halten, geht die FDP – notabene die Partei des zuständigen Aussenministers Ignazio Cassis – von einer Verlängerung aus. Daraus lässt sich schliessen, dass der Bundesrat den Akteuren für die Vernehmlassung mehr Zeit geben wird als üblich, wie dies auch die Kantone wünschen.
Da die Gespräche über die Zukunft des bilateralen Wegs schon über zehn Jahre dauern, kommt es darauf auch nicht mehr an. Anfang 2026 soll das Paket ins Parlament kommen. Weil das Referendum Formsache ist, hat das Volk das letzte Wort. Allenfalls wird auch das Ständemehr gelten. Mit einer Abstimmung ist frühestens 2028 zu rechnen.