Moskaus Angriff vom Freitagmorgen war der konzentrierteste Schlag gegen die Infrastruktur seit Kriegsbeginn. Nun droht möglicherweise ein erneuter Dammbruch – und Kiew steht vor harten Entscheidungen.
Russland hat am Freitagmorgen das Energiesystem der ganzen Ukraine mit 151 Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen bombardiert. Der staatliche Netzbetreiber Ukrenerho sprach vom grössten Angriff seit Beginn der Invasion vor zwei Jahren. Gemessen an der Zahl abgefeuerter Flugkörper waren zwei Attacken zu Jahresbeginn zwar noch umfangreicher. Aber die jüngste war seit langem die schwerwiegendste.
Den Ukrainern gelang es zwar, die meisten Drohnen abzuschiessen, aber nur knapp die Hälfte der übrigen Flugkörper. Eine so schlechte Rate hatten sie zuletzt vor eineinhalb Jahren. Die Flugkörper trafen Kraftwerke und Infrastruktur zur Verteilung des Stroms in verschiedenen Landesteilen. Die frontnahe Metropole Charkiw erlebte am Morgen ein fast vollständiges Blackout. 700 000 Menschen haben keinen Strom und teilweise auch kein Wasser. In Odessa und sieben anderen Regionen rationierten die Behörden den Strom, um das Netz zu stabilisieren. In der Ostukraine stecken wegen Stromausfällen 1000 Kumpel in Kohleschächten fest. Landesweit wurden mehrere Personen getötet.
Gefahr eines Dammbruchs am Dnipro
Besonders dramatisch präsentiert sich die Lage in der Region Saporischja. Das Wasserkraftwerk Dnipro-HES und der dazugehörige Damm standen am Morgen in Flammen. Laut seinem Direktor haben die beiden Maschinenräume direkte Treffer abbekommen. Ob der zweite Block mit einer Leistung von 900 Megawatt repariert werden könne, sei angesichts der grossen Schäden unklar.
Overnight, russia attacked Ukraine with more than 60 Shahed UAVs and almost 90 missiles of various types.
The main targets for russian terrorists are energy facilities, including Ukraine’s largest hydroelectric power plant, and apartment buildings.Ukraine needs more air… pic.twitter.com/f8s5qE88Cn
— Defense of Ukraine (@DefenceU) March 22, 2024
Gegenwärtig steht das gesamte Kraftwerk still. Die Schleusen wurden geöffnet, um den Wasserdruck zu senken. Erklärten die Behörden zunächst, ein Bruch des grössten ukrainischen Damms drohe nicht, hiess es später am Vormittag, das Risiko müsse abgeklärt werden. Genauere Informationen gebe es erst später am Freitag.
Ein Bruch der Staumauer hätte katastrophale Folgen für Ökologie und Landwirtschaft. Das Kraftwerk liegt 180 Kilometer Luftlinie vom Kachowka-Damm entfernt, den die Russen im vergangenen Jahr absichtlich oder durch Grobfahrlässigkeit zerstörten. Seither ist der dazwischenliegende ehemalige Stausee grösstenteils ausgetrocknet.
Another night of massive Russian missile strikes in Ukraine, this time targeting the power infrastructure. DniproHES hydropower station in Zaporizhzhia among those hit. Russia is taking advantage of Republicans in the House cutting off the resupply of air defense interceptors. pic.twitter.com/ozzhtTNaSj
— Yaroslav Trofimov (@yarotrof) March 22, 2024
Betroffen waren damals auch Kühlteiche des Atomkraftwerks Saporischja, das im gleichen Gebiet liegt. Die Raketen trafen am Freitag erneut eine Hochspannungsleitung, die das russisch besetzte Reaktorgelände mit dem ukrainischen Stromnetz verbindet. Der Strom ist für die Kühlung unabdingbar, Energie produziert das AKW gegenwärtig nicht. Die Betreibergesellschaft Enerhoatom sprach am Morgen von einem drohenden Blackout, am Mittag konnte die Leitung aber bereits repariert werden.
Russland nützt Lücken in der Luftverteidigung aus
Weshalb die Russen nach einem vergleichsweise ruhigen Winter ihren Raketenterror gegen die zivile Infrastruktur der Ukraine wieder aufnehmen, bleibt vorläufig unklar. Naheliegend ist, dass sie sich für die verheerenden ukrainischen Drohnenangriffe der letzten Wochen auf ihre Raffinerien rächen wollen. Pikanterweise meldete die «Financial Times» am Freitagmorgen, dass die USA die Ukraine aufgefordert hätten, ihre Attacken einzustellen, da sie inmitten des Wahlkampfs zu einer Erhöhung der Ölpreise führten.
Ebenso plausibel ist, dass Moskau den Moment für geeignet hielt, um zu testen, wie gross die Lücken in der ukrainischen Luftverteidigung sind. Dass Kiew wegen der Blockade in Washington zu wenig Munition dafür hat, ist seit längerem bekannt. Jüngst wiesen anonyme westliche Quellen warnend darauf hin, dass den Ukrainern bis Ende Monat die Abwehrraketen ausgehen könnten. Dies mag etwas zugespitzt sein, um politisch Druck aufzusetzen. Doch prekär ist die Lage zweifellos.
Die russischen Angriffe deuten auf erhebliche Probleme hin. So konnten die Ukrainer im Gegensatz zu früheren Wellen keine einzige Hyperschallrakete des Typs Kinschal, keine ballistische Iskander-M und keinen Ch-22-Marschflugkörper abschiessen. Der Grund dürfte ein Mangel an moderner Munition sein, etwa für die Patriot-Systeme. Weniger erstaunlich ist hingegen, dass die umfunktionierten S-200 und S-300, mit denen Charkiw bombardiert wurde, durchkamen: Die Russen schiessen sie aus der Grenzregion ab, die Reaktionszeit ist extrem kurz.
Verschärfend kommt hinzu, dass die Ukrainer in den letzten Wochen Systeme zur Luftverteidigung näher an die Front gerückt haben, um dem zunehmenden Druck der russischen Luftwaffe zu begegnen. Diese fehlen nun in den grossen Städten. Zudem gelang es Moskau, jüngst mehrere Abschussrampen, unter anderem für Patriot-Batterien, im Donbass zu zerstören.
Schaffen es die USA nicht, die politische Blockade aufzulösen, werden die Ukrainer immer häufiger die harte Entscheidung treffen müssen, ob sie primär ihre Soldaten oder die Zivilisten schützen. Wolodimir Selenski forderte deshalb einmal mehr eindringlich zusätzliche Unterstützung. «Die russischen Raketen kommen nicht mit Verzögerung wie die Hilfspakete für unseren Staat», sagte der ukrainische Präsident. Bitter fügte er hinzu: «Die Shahed-Drohnen sind nicht unschlüssig wie gewisse Politiker.»