Der Krieg war seit über zehn Jahren vorbei. Im Dezember 1958 machte der Maler und Schriftsteller Carlo Levi eine Reise durch Deutschland. Jetzt sind seine Notizen auf Deutsch erschienen.
Es beginnt mit den Zollbeamten am Flughafen München. Sie hätten ihn «mit ihren teilnahmslosen Augen» betrachtet, schreibt Carlo Levi, «zwar nicht wie einen Schuldigen, aber doch wie ein Ding». Sie überprüfen sein Gepäck sorgfältig. Und Levi sieht sofort einen Zusammenhang: So wie die Flughafenarchitektur, die er als «habsburgisch» empfindet, hätten die Beamten «etwas vom Bürokratischen und Altbackenen, vom Harten und zugleich Unterwürfigen eines alten, unvergessenen Österreichs». «Hölzerne väterliche Beamte eines kleinen, beschränkten und sich dessen bewussten Reiches», resümiert er.
Damit ist der Ton gesetzt. Im Dezember 1958 reist der italienische Maler und Schriftsteller durch Deutschland. Er ist berühmt. Eingeladen wurde er von seinem deutschen Verlag, der knapp zehn Jahre vorher den Bestseller «Christus kam nur bis Eboli» herausgebracht hatte. Zu tun hat Levi nicht viel. Er redigiert einen Text für einen Bildband über Italien, der bald erscheinen soll, hält ein paar Vorträge, trifft Bekannte und lässt sich treiben.
Gesichtslose Neubauten
Mit einem befreundeten Bildhauer besucht er das frühere Konzentrationslager Dachau, in dem Kriegsvertriebene untergebracht sind. Fährt von München über Augsburg, Ulm, Schwäbisch Hall und Tübingen nach Berlin. Er pendelt zwei Wochen lang zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt hin und her – zwischen den «mitleiderregenden Schwestern der inneren Unfreiheit». Und spürt, ausgerechnet in Berlin, etwas wie Hoffnung.
Es ist Levis erster Besuch in Deutschland, und Levi tut sich schwer. Es ist kalt, die Weihnachtsdekorationen machen die trostlose Atmosphäre nur noch spürbarer, und in der falschen Behaglichkeit der Bierkeller und Nachtlokale, die er besucht, trifft er auf lauter versehrte Menschen. Gestrandete, Prostituierte, Verrückte. Sie sehnen sich nach einem Leben in bescheidenem Wohlstand, das für sie unerreichbar ist. Und werden mit dem Leben, das sie haben, nicht fertig. «Mein Beruf? Bier», sagt ein junger Mann zu ihm, «und Frauen.»
Deutschland ist für Levi deutsche Kultur. In der Alten Pinakothek in München bewundert er die Werke der alten Meister. Die Menschen, denen er auf den Strasse begegnet, erinnern ihn an Bilder von Schongauer, Baldung Grien oder Albrecht Dürer – «aber ohne das Feuer der Leidenschaft in den Augen». Wie ein Traumwandler zieht er durch das Land. Er sieht Trümmer, gesichtslose Neubauten, liebliche Landschaften, saubere Kleinstädte und idyllische Dörfer. Erinnert sich an Hölderlin und Goethe. Und weiss nicht, wie er das Deutschland, das er kennt, mit dem zusammenbringen soll, was er vor sich sieht.
Jenseits der Erinnerung
Levi erlebt «ein verwundetes Land, ohne Autonomie, ein gekränktes Land, von sich selbst mehr als von den anderen». Die Wunden des Kriegs sind noch zu sehen, das Trauma des Nationalsozialismus ist noch nicht überwunden. Er spürt auch, dass die meisten nicht bereit sind, sich der Vergangenheit zu stellen. Viele Deutsche hätten die Schrecken der Nazizeit in einen «Bereich jenseits der Erinnerung verbannt», schreibt er. Einen Bereich, der ihnen selbst nicht mehr zugänglich sei.
Unmittelbar nach der Rückkehr nach Italien schrieb Carlo Levi seine Eindrücke nieder. Noch im folgenden Jahr erschienen sie auf Italienisch. Man kann sie als Dokumente eines Verzweifelten lesen, der das Land, dem er sich verbunden fühlt, lieben möchte. Und es nicht kann. Weil es ihm zu fremd ist.
Carlo Levi: Die doppelte Nacht. Eine Deutschlandreise im Jahr 1958. Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker. Mit einem Nachwort von Bernd Roeck. Verlag C. H. Beck, München 2024. 176 S., Fr. 29.90.