Vor 20 Jahren kamen zehn neue Länder in die EU. In den bisherigen Mitgliedsstaaten war die Skepsis vor allem gegenüber den mittel- und osteuropäischen Ländern gross – zu Unrecht, wie der Ökonom Richard Grieveson erklärt.
Herr Grieveson, vor 20 Jahren ging in vielen Ländern Westeuropas die Befürchtung um, von billigen Arbeitskräften aus den neuen Ländern überrannt zu werden. War diese Angst berechtigt?
Man kann diese Frage natürlich politisch beantworten, aber ich bin Ökonom. Und da muss ich sagen, die Migrationsbewegungen waren vor allem ein Vorteil für Westeuropa. Die Lücken auf dem Arbeitsmarkt wären enorm, ich glaube gewisse Länder könnten ohne die Arbeitskräfte aus den neuen EU-Ländern gar nicht wachsen. Soweit ich das überblicken kann, gibt es auch kaum Integrationsprobleme mit Menschen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern. Man kann allerdings argumentieren, dass die Auswanderung ein Problem für die osteuropäischen Länder war und ist. Sie bilden die Leute aus, und die gehen dann fort.
Welche Bilanz ziehen Sie aus der ersten EU-Erweiterung?
Die kurze Antwort lautet: Es ist eine Erfolgsgeschichte. Die wirtschaftlichen Fortschritte sind deutlich. Das gilt vor allem für die Länder, die damals nicht so weit entwickelt waren. Polen zum Beispiel war 2004 ungefähr bei 35 Prozent des deutschen Wohlstandsniveaus, nun ist es bei fast 70 Prozent. Es hat eine Integration in das Kerneuropa stattgefunden. Die ausländischen Direktinvestitionen waren sicher der Haupttreiber. Vor allem die Visegrad-Länder, also Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei, sowie Slowenien sind heute Teil der westeuropäischen und vor allem der deutschen Lieferketten.
Wer hat denn am meisten in die neuen Länder investiert?
Vor allem Deutschland, aber auch Österreich, Frankreich, die Niederlande, die Schweiz und Grossbritannien. Und auch die USA spielen immer noch eine Rolle. In den letzten Jahren kam mehr Kapital aus China. Aber man kann eine sehr umfassende Integration in den Kern der mitteleuropäischen Industrie feststellen – und der befindet sich vor allem in der deutschsprachigen Welt.
Was hat sich für die Bürger verändert?
Auch die sozialen Entwicklungen sind relativ positiv. Natürlich gibt es soziale Herausforderungen, wie überall in Europa. Aber in den Visegrad-Ländern und Slowenien sind die Werte für Ungleichheit und Armut ähnlich wie in Westeuropa, wenn nicht sogar niedriger. Die Abwanderung, vor allem von jungen und gut qualifizierten Leuten, ist allerdings ein Problem. Und es gibt immer noch einen deutlichen Unterschied in den Lohnniveaus zwischen den alten und den neuen EU-Ländern.
Hat sich die Struktur dieser Volkswirtschaften in den letzten 20 Jahren verändert?
Nicht wirklich. Sie waren auch im Kommunismus stark industrialisiert, bevor dann nach der Wende der Zusammenbruch kam. Durch die Direktinvestitionen aus Westeuropa wurden sie reindustrialisiert. Heute macht die Industrie wieder 20 bis 30 Prozent des BIP aus. Exporte – in Ungarn und der Slowakei machen sie etwa 90 Prozent des BIP aus – bestehen ebenfalls hauptsächlich aus Industriegütern. In Ungarn und der Slowakei sind es etwa 91 Prozent. Das ist ungewöhnlich. Selbst in Deutschland sind es nur 50 Prozent, in Frankreich oder Italien eher 30 Prozent. Selbst im globalen Vergleich sind die Visegrad-Länder hoch industrialisiert. Das war in den vergangenen Jahrzehnten eine Stärke, aber mittelfristig wird es zur Gefahr.
Inwiefern?
Die Visegrad-Länder sind immer noch sehr auf die Produktion fokussiert, die grossen Gewinne werden aber anderswo gemacht. Man sieht in Osteuropa wenig Dynamik hin zu mehr Innovation, Forschung, Entwicklung oder auch Dienstleistungen.
Woran liegt das? Gerade in den neueren Mitgliedstaaten nimmt doch der Anteil an gut ausgebildeten Menschen zu?
Es geht nicht um die Arbeitskräfte, sondern um das Kapital und damit um den Ort, wo die Entscheidungen getroffen werden: Das ist dann eher Frankfurt oder München statt Budapest und Warschau. Es gibt schon Ausnahmen, es gab mehrere Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen in Bratislava, zum Beispiel. Aber es ist nicht genug im Vergleich zum Gewicht der Produktion. Die ist meist arbeitsintensiv, und darum lohnt es sich für deutsche Firmen, sie nach Osteuropa auszulagern, weil dort die Lohnkosten immer noch niedrig sind.
Also sind die Investoren schuld?
Nein, es liegt auch an den Ländern selbst. Es gab in den letzten Jahrzehnten zu wenig Überlegungen in Politik und Gesellschaft, wie die nächste Stufe der Entwicklung geschafft werden könnte. Auch gibt es fast keine Diskussion über eine moderne Industriepolitik. In Berlin, Paris, Brüssel ist das ja seit ein paar Jahren ein Dauerthema, aber nicht in Ostmitteleuropa. Und soweit ich weiss, gibt es kein Land, das das deutsche Entwicklungsniveau erreicht hat, ohne über irgendeine Innovations- oder Industriepolitik zu verfügen.
Warum denkt man denn so wenig an die Zukunft?
Ich glaube, das Mantra ist immer noch, dass man vor allem ausländische Investoren ins Land holen muss, egal aus welchem Sektor.
Wir haben jetzt viel über Investitionen gesprochen. Aber die wären ja vermutlich nicht gekommen, wenn die EU keine Transferleistungen für die Infrastruktur getätigt hätte.
Es gibt drei Gründe, warum diese EU-Erweiterung wirtschaftlich so erfolgreich war. Erstens die institutionellen Reformen, und zwar vor allem vor dem Beitritt, da waren die Fortschritte in allen Ländern gross. Zweitens das EU-Geld – man kriegt 2, 3, 4 Prozent des Budgets pro Jahr, das ist über 20 Jahre wahnsinnig viel. Und das bringt, drittens, die besseren ausländischen Direktinvestitionen. Die Investoren bauen auf die EU in Bezug auf Rechtssicherheit und verlassen sich auf eine gewisse Qualität der Infrastruktur.
Gerade die Rechtssicherheit hat in Polen und Ungarn jüngst gelitten. Sehen Sie Auswirkungen auf die Direktinvestitionen?
In Polen nicht, das bleibt attraktiv, vermutlich auch wegen der Marktgrösse. Man muss hier festhalten, dass Polen das einzige Land in Europa war, das 2009 nicht in eine Rezession gerutscht ist. Aber die PiS-Regierung ist auch nicht so weit gegangen wie Orban in Ungarn. Ich weiss, nicht alle freut es, wenn ich das sage: In Polen ist es relativ unwichtig, wer an der Macht ist – rein wirtschaftlich gesehen. In Ungarn ist es etwas anders. Orban geht zwar sehr vorsichtig mit den grossen deutschen Firmen um, die dort seit Jahren aktiv sind. Er weiss, was er an ihnen hat. Es gibt noch Investitionen, aber vor allem von Unternehmen, die schon da sind. Neue Projekte gibt es dagegen wenig. Dafür kommt immer mehr chinesisches Geld ins Land.
Also auch Ungarn nimmt keinen wirtschaftlichen Schaden dadurch, dass es sich nicht an das EU-Regelwerk hält.
Eher nein. Wobei man festhalten muss: Ungarn leidet merklich darunter, dass die EU Gelder zurückhält. Bis zur Pandemie war das Land einer der Top-Performer in der Region, doch seit sie weniger EU-Mittel bekommen, ist der Abschwung sehr stark.
Diese EU-Gelder sind auch ein hochpolitisches Thema. Unbestritten sind sie für die Empfänger ein Segen – aber was haben die Nettozahler davon?
Die Bilanz ist auch für sie positiv. Die Menschen aus den neueren EU-Ländern retten den westeuropäischen Arbeitsmarkt seit Jahren. Die westeuropäischen Firmen, vor allem aus Deutschland und Österreich, aber auch aus der Schweiz, machen enorme Gewinne in der Region. Aus französischer oder spanischer Perspektive sieht die Bilanz vielleicht gemischter aus.
Hatte die erste EU-Erweiterung auch negative Auswirkungen?
Ja, aber vor allem für die neuen Mitgliedsländer, die einen Teil der Bevölkerung nach Westeuropa verloren haben. Und zwar eher junge, gut ausgebildete Leute. Das hat in gewissen Ländern den Stadt-Land-Graben verstärkt, und das zeigt sich zum Teil auch in den politischen Entwicklungen, etwa in Polen. Und in manchen Ländern kam die wirtschaftliche Entwicklung nicht ganz so schnell voran. Die Stars sind Polen, Rumänien und das Baltikum. In Ungarn, Tschechien oder Slowenien ging es weniger schnell, wobei die letzten beiden von Anfang an reicher waren.
Aber nimmt der Braindrain nach Westen nicht ab? Seit ein paar Jahren ist zum Beispiel in Polen der Wanderungssaldo positiv.
Nicht wirklich. Es gibt inzwischen einige gut ausgebildete Leute, die nach Osteuropa zurückgehen, aber das ist kein Trend. Die Wanderungsbilanz ist positiv geworden, weil diese Länder auch das Ziel von Migranten sind, allen voran für Flüchtlinge aus der Ukraine. Aber auch weil sie Arbeitskräfte ausserhalb Europas anwerben, vor allem in Asien. Auch sie leiden unter Fachkräftemangel, Tschechien ist besonders betroffen.
Bei grösseren Erweiterungsschritten gab es im Vorfeld immer viel Skepsis. Sehen Sie Parallelen zu den Diskussionen, die heute im Hinblick auf die Ukraine und den Westbalkan geführt werden?
Wenn man in Wien sitzt, hat man den Eindruck, dass eine neue Erweiterung auch heute möglich ist, mindestens in den Westbalkan. Es gibt viel Unterstützung, auch weil die Wirtschaft sich grosse Vorteile in Südosteuropa ausrechnet. Gegenüber der Ukraine ist man hier skeptischer. Aber ich weiss, dass dies in anderen Teilen Europas anders gesehen wird. Dort gibt es mehr Unterstützung für die Ukraine und mehr Skepsis gegenüber dem Balkan. Ganz generell würde ich aber sagen: Der Ukraine-Krieg hat grundsätzlich die Offenheit gegenüber einer Erweiterung erhöht. Man ist sich bewusst: Es muss eine Reaktion auf Russlands Angriffskrieg geben. Dennoch bin ich skeptisch, dass es bald so weit kommt.
Weshalb?
Neben den unterschiedlichen Präferenzen hinsichtlich der Beitrittskandidaten gibt es weitverbreitete Ängste: um das EU-Budget und um die Landwirtschaft, vor allem wenn die Ukraine dazukommt. Und das grösste Problem ist das Vetorecht eines jeden Mitgliedstaates. Das krasseste Beispiel ist Nordmazedonien. Fast 20 Jahre haben sie mit Griechenland über die Namensänderung gestritten. Jetzt, da dies vorbei ist, wird die Annäherung an die EU von den Bulgaren blockiert, weil sie eine Verfassungsänderung zugunsten der bulgarischen Minderheit fordern. Wenn alle 27 Länder ihre individuellen Bedenken anmelden können, und damit den Prozess stoppen, wird das sehr schwierig.
Das war auch eine der Befürchtungen der Erweiterungsskeptiker – dass die EU weniger handlungsfähig wird.
Absolut. Bei dieser Bilateralisierung geht es ja auch gar nicht mehr darum, dass diese Länder die Bedingungen für den Beitritt erfüllen. Allein das ist schwierig, und das ist auch gut so. Es ist per se viel politische Arbeit – und dann kommen die Bulgaren und blockieren, ich finde das höchst problematisch.
Aber das geopolitische Interesse einer Erweiterung war wohl kaum je grösser als heute.
Ja, aus rein geopolitischen Gründen müsste man sofort erweitern. Aber die Diskussionen in Brüssel drehten sich schon immer darum, ob eine Erweiterung geopolitisch begründet sein soll oder eben streng an die Erfüllung von Bedingungen geknüpft. Ich glaube, es war und ist immer eine Mischung. Schon 2004 und vor allem 2007 waren die geopolitischen Argumente stark. Niemand war wohl überzeugt, dass Rumänien und Bulgarien institutionell wirklich bereit waren. Aber dieser Krieg in der Ukraine zeigt jetzt, was für eine wichtige Entscheidung das war. Beide Länder sind als EU- und Nato-Mitglieder sehr wichtig bei der Unterstützung der Ukraine.
Für welches Land stehen die Chancen am besten?
Ich denke für Montenegro. Es ist klein und institutionell wie auch wirtschaftlich weit fortgeschritten. Die derzeitige Regierung beschäftigt sich stark mit den notwendigen Reformen. Aus Sicht der EU sind Risiken und Kosten relativ klein, Montenegro hat 600 000 Einwohner. Und es wäre ein wichtiges Signal: Es ist jetzt 11 Jahre her, seit die EU zuletzt ein Land aufgenommen hat, Kroatien. Grade in Südosteuropa glauben viele Leute nicht mehr an die EU-Mitgliedschaft.
Richard Grieveson ist stellvertretender Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Er koordiniert die Analysen und Prognosen für Mittel-, Ost- und Südosteuropa, forscht aber auch zum EU-Erweiterungsprozess und der damit verbundenen Integration.