Ganz Zürich diskutiert über die Leerkündigungen an der Neugasse. Jetzt beginnt der Kampf um die Deutungshoheit.
Ein Mann wohnt mit seiner Familie während 25 Jahren in derselben Wohnung im Zürcher Kreis 5. Gleich neben den Bahngleisen in einem der farbigen Blöcke, die alle nur «Sugus-Häuser» nennen.
Hier wachsen seine Kinder auf, hier ist er zu Hause. Doch damit soll nun Schluss sein: Am Montag erhält er einen Brief von seiner Hausverwaltung, wie er der NZZ erzählt. Darin steht: Binnen dreier Monate muss er sich eine neue Bleibe suchen. Er fühle sich, sagt er, als hätte man ihm den Boden unter den Füssen weggezogen.
Der Mann ist mit seinem Schicksal nicht allein: Den gleichen Kündigungsbrief haben auch alle seine Nachbarn bekommen. Insgesamt 200 Personen sind betroffen. Ihre Wohnungen an der Neugasse 81, 83 und 85 sollen laut der Verwaltung kernsaniert werden.
Auch mit seiner Empörung ist der Bewohner nicht allein. Die Nachricht von der Leerkündigung ist seit Mittwoch das grosse Thema in der Stadt.
Kein Wunder: Der fehlende Wohnraum ist eine der grössten Sorgen der Stadtbevölkerung. Und mit der Wohnschutzinitiative steht auch im Kanton eine Grundsatzentscheidung zum Thema an.
Entsprechend beginnt nun der Kampf um die Deutungshoheit über den Vorfall. Ist er eine bedauerliche Ausnahme? Oder steht er für ein grundlegendes Problem auf dem Mietmarkt?
Höhere Mietzinsen und befristete Verträge
Für Walter Angst ist die Sache klar. Er ist Co-Geschäftsleiter des Mieterverbands Zürich und bekämpft Leerkündigungen wie jene an der Neugasse seit Jahren. Momentan gebe es allein in der Stadt Zürich 300 Mietverhältnisse, die von Leerkündigungen betroffen seien.
Das Ziel solcher Kündigungen bestehe für die Verwaltungen meist darin, möglichst rasch alle Mietverhältnisse zu kündigen, um dann neue Verträge mit höheren Mietzinsen aufzusetzen, ist Angst überzeugt. Die neuen Verträge seien dann in der Regel auch noch befristet. «Das soll den Vermietern eine rasche Gewinnmaximierung und Flexibilität bei der Planung von Sanierungs- oder Abrissarbeiten ermöglichen.»
Ein Bewohner der «Sugus-Häuser», der sein Geld als Architekt verdient, hat denselben Verdacht, wie er der NZZ sagt. Die Gebäude seien in den vergangenen Jahren gut gepflegt worden. Erst vor kurzem habe man sogar einen Aufzug revidiert.
Die Verwaltung hat gegenüber ihren Mieter dagegen betont, eine Totalsanierung sei notwendig – für eine «nachhaltige und ökologische Zukunft». Auf die Fragen der NZZ wollte sie nicht antworten.
Die drei betroffenen Häuser gehören Regina Bachmann, einer Erbin des sozial engagierten Baulöwen Leopold Bachmann. Er vermachte seinen Kindern ein umfangreiches Immobilienportfolio.
Walter Angst vom Mieterverband ist überrascht, dass Eigentümer so vorgehen wie die Bachmann-Erbin im Kreis 5. Denn damit schade die Eigentümerin nicht nur ihren Mieterinnen und Mietern, sondern auch sich selbst. «Der Image-Schaden ist enorm. Und finanziell wird sich das langfristig auch nicht lohnen.»
Angst ist davon überzeugt, dass Leerkündigungen niemandem etwas nützen. Die betroffenen Mieter haben mit Einsprachen nämlich sehr gute Chancen, sich eine Fristerstreckung zu erkämpfen. Diese kann bei Wohnungen maximal vier Jahre betragen. In dieser Zeit haben die Vermieter die gleichen Pflichten wie in regulären Mietverhältnissen, weshalb aus der Gewinnmaximierung häufig nichts werde.
Hauseigentümer kritisieren den Einzelfall
Ist der Fall also Ausdruck eines grösseren Problems? Nein, entgegnen die Interessenvertreter der Hauseigentümer. Gleich drei Organisationen haben dazu am Donnerstag eine gemeinsame Stellungnahme verfasst: der Zürcher Hauseigentümerverband, die Vereinigung Zürcher Immobilienunternehmen und der Schweizerische Verband der Immobilienwirtschaft Zürich.
Darin heisst es: Man beurteile die Kündigungen so kurz vor Weihnachten als «sehr kritisch».
Ein solches Vorgehen sei «in höchstem Mass ungehörig» und «unprofessionell», schreiben die politischen Vertreter der Vermieter.
Von problematischen Leerkündigungen und angeblicher Gewinnsteigerung will man bei den drei Organisationen hingegen nichts hören. Im Gegenteil: Hier, heisst es, handle es sich um einen Einzelfall. Deswegen wollen die Organisationen auch nicht die Leerkündigung als «Massnahme an sich» infrage stellen, sondern lediglich den konkreten Fall im Kreis 5.
«Vollständige Entmietungen» könnten im Zusammenhang mit aufwendigen Sanierungsarbeiten nicht nur für die Vermieter, sondern auch für Mieter «sinnvoll» sein. Und zwar weil Bauarbeiten dadurch effizienter vollzogen werden könnten.
Nirgends so viele Leerkündigungen wie in Zürich
Schweizweit kommt es pro Jahr zu rund 2000 Leerkündigungen, mit jährlich 30 000 betroffenen Mieterinnen und Mietern. Das zeigt eine Studie der Zürcher Kantonalbank, die die Praxis zwischen 2018 und 2022 untersuchte. Besonders viele «Entmietungen» gab es dabei in den Grossstädten Zürich, Basel, St. Gallen und Bern.
Zürich ist dabei klarer Rekordhalter. Hier gab es 260 Leerkündigungen pro Jahr – mehr als dreimal so viele wie in Basel, das auf Platz zwei liegt.
Auffallend tief ist die Anzahl der Leerkündigungen in der zweitgrössten Schweizer Stadt: In Genf gab es bloss 20 Fälle pro Jahr – weniger als im beschaulichen Davos. Den Grund dafür sehen die Studienautoren im strengen Mieterschutz, «bei dem Genf seit Jahrzehnten Vorreiter ist».
Genfer Verhältnisse: Das fordert im Kanton Zürich auch die erwähnte Wohnschutzinitiative der Linken. Sie kam im Frühjahr zustande und will hohe Mietsteigerungen nach Totalsanierungen erschweren. Die «Sugus»-Affäre dürfte diesem Ansinnen nun Auftrieb geben.