Die Aktien von Swiss Life haben seit dem vergangenen Sommer über 20% zugelegt. Das Kursmomentum ist intakt. Doch Anlegern stellt sich ein Dilemma: Trotz attraktivem Ertragspotenzial birgt das Immmobilienportfolio Risiken.
Die Aktien von Swiss Life weisen seit dem vergangenen Sommer ein positives Momentum auf und sind um mehr als 20% vorgeprescht. Im Fünfjahresvergleich heben sich die Valoren des Lebensversicherers von der Konkurrenz ab – sie haben knapp 50% zugelegt, während Zurich Insurance rund 40% avanciert sind, Swiss Re sowie Helvetia wenig verändert notieren und Baloise mehr als 10% verloren haben.
Doch 2024 kommt einiges auf den Schweizer Lebensversicherer zu: eine Management-Rochade im Mai, bei der der abtretende CEO Patrick Frost durch den derzeitigen CFO Matthias Aellig ersetzt wird. Aellig wiederum wird von Marco Gerussi, Leiter Finance Transformation und Group IT, abgelöst.
Am Investorentag am 3. Dezember soll ausserdem eine neue Dreijahresstrategie vorgestellt werden. Analysten gehen von der Ankündigung eines neuen Aktienrückkaufprogramms von 1 Mrd. Fr. aus. Es soll gleichmässig über die Dauer der Dreijahresstrategie umgesetzt werden.
Kann das Kursmomentum angesichts der Umbesetzungen im Management und des bevorstehenden Strategie-Update bestehen bleiben? Bis wohin schaffen es die Valoren von Swiss Life in den nächsten ein bis zwei Jahren?
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile
Swiss Life ist im Lebensversicherungsgeschäft und im Asset Management tätig. Im Versicherungsbereich konkurriert sie teilweise mit Allianz, Axa, Baloise, Helvetia und Zurich, im Asset Management steht sie in Konkurrenz zu BlackRock, UBS sowie anderen Banken und Vermögensverwaltern.
Mit Lebensversicherungen werden Risiken wie Tod oder Erwerbsunfähigkeit abgesichert – Betroffene und ihre Familien schützen sich damit vor den finanziellen Konsequenzen. Der Grossteil dieses Geschäfts läuft gemäss dem Statistikunternehmen Statista über die Kollektivversicherung der beruflichen Vorsorge und über die private Vorsorge via Einzelkapitalversicherungen.
Insgesamt machte das Versicherungsgeschäft im ersten Halbjahr 2023 87% des Gewinns von Swiss Life aus, wobei das Schweizer Geschäft mit einem Anteil von 50% der wichtigste Bereich ist. In der Schweiz ist Swiss Life mit einem Marktanteil von 41% Marktführerin im Lebengeschäft.
Das Versicherungsgeschäft von Swiss Life ist stabil, weist jedoch ein tiefes Wachstum auf – die Nettoprämien wuchsen in den letzten zehn Jahren nur 12%. Hinzu kommen regulatorische Reserveanforderungen für die Versicherer. Sie schützen zwar die Versicherungsnehmer vor Leistungsausfällen, belasten aber die Eigenkapitalrendite (Return on Equity, ROE) der Anbieter erheblich.
Zur Steigerung der Rendite verlagert sich Swiss Life gezielt vom Versicherungsgeschäft zum Kommissionsgeschäft im Asset Management. Zusätzlich zur Diversifikation der Einnahmen spielt dabei die geringere Kapitalintensität der Vermögensverwaltung die entscheidende Rolle.
Die Zürcher verwalten 260 Mrd. Fr., wovon 112 Mrd. Fr. von externen Kunden stammen. Gemäss dem Beratungsunternehmen Thinking Ahead entfallen 44% der globalen Vermögenswerte auf die grössten zwanzig Vermögensverwalter. Swiss Life belegt den 22. Platz der grössten Vermögensverwalter in Europa und weltweit den 82. Rang.
Sie hat damit eine kritische Grösse und verfügt gleichzeitig über die Möglichkeit, die verwalteten Vermögen (Assets under Management, AuM) deutlich auszubauen. Eine kritische Grösse ist aufgrund des harten Wettbewerbs zwingend. Der Wettbewerbsvorteil, den Swiss Life mit der Fokussierung auf Schweizer Immobilien- und Infrastrukturanlagen mitbringt, schützt gemäss Thomas Bateman, Analyst bei Berenberg, die Höhe der Kommissionseinnahmen und führt zudem zu einem stabilen Zufluss von Neugeldern – insbesondere andere Versicherer und institutionelle Investoren mit sehr langen Anlagefristen interessieren sich dafür.
Seit 2020 flossen Neugelder von etwa 10 Mrd. Fr. pro Jahr, womit sich die AuM Ende 2024 auf 140 Mrd. Fr. belaufen sollen – dies liegt im Rahmen der Ziele der derzeitigen Strategieperiode. Berenberg-Analyst Bateman erwartet ein Update zum Neugeldzufluss für Dezember. Mit dem steigenden Kommissionsertrag aus dem konstanten Zuwachs der AuM sollte der ROE weiter zunehmen – und das eine höhere Bewertung nach sich ziehen.
Der Einfluss von Änderungen des Zinsniveaus
Das ökonomische Kapital der Versicherer setzt sich aus dem Eigenkapital und dem Gegenwartswert des künftigen Gewinns zusammen. Obwohl Versicherungskonzerne versuchen, ihr Anlageportfolio den Verpflichtungen in Sachen Renditeziel, Risiko und Laufzeit anzugleichen, bleiben Unterschiede zwischen ihren Aktiven und Passiven bestehen.
Änderungen des Zinsniveaus beeinflussen sowohl das Anlageportfolio als auch die Verpflichtungen. Hohe Zinsen haben für Versicherungen tendenziell einen positiven Effekt, tiefe einen negativen. Kurzfristig führen steigende Zinsen zwar zu negativen Bewertungsanpassungen auf der Anlageseite. Doch es werden auch die längerfristigen Verpflichtungen stärker diskontiert, und gleichzeitig können Anlagen zu einem höheren Zins neu angelegt werden, sodass die erzielbare Rendite steigt. Durch die höhere Rendite werden zuvor zurückgelegte Reserven frei und können an die Aktionäre ausgeschüttet werden – die Aktionärsrendite steigt.
Da der Regulator die Verpflichtungen von Lebensversicherungen, die mehrere Jahrzehnte umfassen können, zeitlich limitiert, wirkt sich die Diskrepanz zwischen den Aktiven und den Verpflichtungen bei Swiss Life aber auf das Ergebnis aus. Das Eigenkapital wird von Bewertungsanpassungen der Aktivseite voll getroffen, während die Verpflichtungen auf der Passivseite nur teilweise angepasst werden.
Auskunft über diese ökonomische Risikosituation gibt der Swiss Solvency Test (SST). Er soll sicherstellen, dass Versicherungen den zugesagten Leistungen gegenüber den Versicherten jederzeit nachkommen können. Swiss Life weist aufgrund der Fokussierung auf den Lebensversicherungsbereich die tiefste SST-Quote der Schweizer Versicherer aus.
Wegen der Laufzeitunterschiede von Lebens- und Sachversicherungen gibt dieser Wert isoliert betrachtet jedoch nur eine limitierte Auskunft über der finanzielle Lage des Konzerns. Ein Blick auf die Struktur der verwalteten Vermögen löst dieses Problem.
Die Swiss Life Anlagegesellschaft hält 86% ihres Portfolios in Obligationen und Schweizer Immobilien. In Sachen Anlagediversifikation besteht zwar ein Klumpenrisiko, aus versicherungstechnischer Sicht macht die Anlagestruktur aber grundsätzlich Sinn.
Die Laufzeit, die Währung und das Zinsrisiko sind auf die Verpflichtungen des überwiegend schweizerischen Lebensversicherungsportfolios ausgerichtet. Besonders die lange Laufzeit von Immobilieninvestments eignet sich als Gegenstück zur Lebensversicherung.
Aber Achtung: Alle Immobilien – das sind fast 30% des Portfolios – werden nicht nach dem Fair-Value-Prinzip bilanziert, sondern nach mehreren «bedeutenden nicht beobachtbaren Inputfaktoren», wie Swiss Life es nennt. Zwar werden diese Bewertungen regelmässig von Drittunternehmen durchgeführt, doch öffnet dies dem Versicherer Handlungsspielraum in der Bilanzierung von Gewinnen und Verlusten.
Die Leerstandsquote und der Diskontierungssatz – beides verbreitete Kennzahlen im Immobiliensektor – geben Auskunft über die Auslastung von Renditeliegenschaften sowie den Zins, den das Unternehmen verwendet, um die künftigen Mieteinnahmen zu bewerten. Den bedeutendsten Einfluss hat dabei letztere Kennzahl – eine Veränderung des Diskontsatzes von 10 Basispunkten (0,1 Prozentpunkten) macht etwa 1,6 Mrd. Fr. in der Erfolgsrechnung von Swiss Life aus. Zum Vergleich: 2022 verbuchte das Unternehmen einen Jahresgewinn von 1,5 Mrd. Fr.
Auffällig dabei ist: Während der Diskontsatz der zwei grössten Schweizer Immobiliengesellschaften PSP und SPS sich bei Ersterer in den letzten drei Jahren nur geringfügig reduziert und bei Letzterer gar erhöht hat, ist er bei Swiss Life um 55 Basispunkte gesunken – das entspricht rein mathematisch einer Höherbewertung der Immobilien um knapp 8 Mrd. Fr. (effektiv wurden in dieser Zeit 3,4 Mrd. Fr. verbucht).
UBS-Analyst Nasib Ahmed weist auf den Verzögerungseffekt des Schweizer Referenzzinses auf die Bewertung von Immobilien hin. Eine Erklärung könnten auch die sinkende Leerstandsquote und die höhere Mietpreisindexierung von Swiss Life liefern. Die offene Frage, ob die Höhe der Diskontsatzreduzierung gerechtfertigt ist oder die Zinserhöhungen allenfalls erst ab 2024 oder 2025 zu beissen beginnen, bleibt für Investoren jedoch ein Risiko.
Momentum mit nicht zu unterschätzenden Risiken
Derzeit läuft es rund: Die Etablierung einer marktführenden Position in der Lebensversicherung und ein Bolt-on-Wachstum im themenverwandten Asset Management bringen Schwung in den Versicherungskonzern.
Der Schritt weg von den kapitalintensiven Versicherungen wird gemäss Konsensschätzungen das Wachstum des ROE beschleunigen. Das Wachstum, das höhere ROE-Niveau und eine Expansion ausserhalb des stagnierenden Versicherungsmarktes verdienen grundsätzlich eine Höherbewertung – beide Analysten sind davon überzeugt.
Die Zinsabhängigkeit des Portfolios sowie der bedeutende Teil von Anlageimmobilien, die nicht nach dem Fair-Value-Prinzip bewertet werden, bergen jedoch nicht zu unterschätzende Risiken. Obschon die Terminmärkte heute von einer Stabilisierung beziehungsweise von Senkungen der Zinsen ausgehen, bleibt das vorerst nur eine Erwartungshaltung.
Sollten die Zinsen weiter steigen oder länger auf einem höheren Niveau bleiben, müsste sich der Diskontierungssatz von Swiss Life zwangsläufig noch nach oben anpassen. Längerfristig ergäben sich zwar höhere Mieteinnahmen, doch kurzfristig könnten die Bewertungsanpassungen auf den Immobilien das Geschäftsergebnis erheblich belasten.
Dem UBS-Analysten Ahmed gibt die in kürzester Zeit stark gestiegene Bewertung zu bedenken. Das für Dezember erwartete, aber noch nicht angekündigte Aktienrückkaufprogramm und der Abbau der Reserven aufgrund der höheren Zinsen seien bereits komplett eingepreist – sollte es wie erwartet zu Zinssenkungen kommen, könnten diese Ausschüttungen tiefer ausfallen.
In Szenarien denken
Eine Szenarioanalyse kann Abhilfe bezüglich Renditepotenzial und Risikobedenken schaffen. Optimal dürfte sich der Kurs entwickeln, wenn der Immobiliensektor, das Zinsniveau und die Anlagemärkte stabil bleiben respektive sich nur allmählich verändern. Negative Einflussfaktoren wären eine deutlich unter dem Marktkonsens liegende Geldschöpfung, schnelle Zinssprünge oder Abschreiber auf dem Immobilienportfolio.
Bleibt die Bewertung stabil, winkt den Investoren bei Swiss Life ein Gesamtertrag aus Kursgewinn und Ausschüttungen von 25% bis Ende 2025. Steigt die Bewertung dank einem expandierendem ROE weiter, gar noch mehr. Das stellt eines der besten Potenziale unter den Schweizer Versicherungsaktien dar. Nur Swiss Re bietet höhere Chancen, wobei ihr Rückversicherungsgeschäft sich jeweils viel schwankungsanfälliger entwickelt als das Lebengeschäft von Swiss Life. Kühlt sich die Bewertung von Swiss Life jedoch nur leicht auf das Durchschnittsniveau von 2022 und 2023 ab, droht den Investoren trotz hoher Dividende und Aktienrückkäufen unter dem Strich praktisch ein Nullsummenspiel.
Zentral für eine weiter positive Kursentwicklung wird daher sein, dass die diesjährigen Rochaden im Management reibungslos über die Bühne gehen und der neue CEO Matthias Aellig mit dem Strategie-Update im Dezember die Erwartungen erfüllt sowie neue Impulse setzt, um das Momentum hoch zu halten.