In Russland platzen Rohre, stürzen Häuser ein, die Stabilität zerfällt. Putin habe ein Interesse an der Ukraine, schreibt die Schriftstellerin Irina Rastorgujewa. Aber kein Interesse an Russland.
Viele Kreml-Propagandisten behaupten, der Anstieg des Dollarkurses werde die russische Wirtschaft in keiner Weise beeinflussen. Der Präsidentensprecher Dmitri Peskow sagte, die Russen erhielten ihre Gehälter ja schliesslich in Rubel. Die ehemalige Duma-Abgeordnete Swetlana Schurowa pflichtete ihm bei: «Es wäre seltsam, wenn sich dies auf die Preise auswirken würde. Wie kann die Milch teurer werden, weil der Dollar gestiegen ist? Ich glaube, die einfachen Leute interessiert das nicht. Sie haben noch nie Dollar gehabt – niemand hat sie je mit eigenen Augen gesehen.»
Die Menschen haben vielleicht noch nie Dollar gesehen, aber sie haben die höheren Milchpreise bemerkt. Nach Angaben von Artjom Below, dem Generaldirektor des nationalen Verbandes der Milcherzeuger, sind die Kosten für die Milcherzeugung in Russland seit 2022 um 24 Prozent und für die Verarbeitung um 15 bis 18 Prozent gestiegen. Die um 31,3 Prozent teurere Butter ist in den Supermärkten mittlerweile mit einem Schutz gegen Diebstahl ausgestattet.
Regierungsfreundliche Bots zur Beruhigung
Michail Matwejew, Duma-Abgeordneter, sagt, dass die Migranten für den Anstieg des Dollarkurses verantwortlich seien, weil sie in Russland Geld verdienten und «jedes Jahr Dutzende von Milliarden Dollar in unseren Banken aufkaufen, was die Nachfrage nach Valuta und den Anstieg des Wechselkurses anregt». Der Minister der Finanzen, Anton Siluanow, rief dazu auf, gar nicht erst an eine Erhöhung des Leitzinses zu denken, denn «wenn man viel darüber nachdenkt, wird es wahr». Die widerspenstigen Russen sollen die Wirtschaft des Landes nicht geistig untergraben.
Um die Bevölkerung zu beruhigen, wurden in den sozialen Netzwerken regierungsfreundliche Bots eingesetzt, die darauf hinwiesen, dass die Brics-Staaten in ihren Landeswährungen zahlen, während «der Westen schon seit langem russische Ressourcen in Rubel aufkauft». Einige Bots melden, dass der Anstieg des Dollars aufgrund der höheren Ölpreise ein Plus für die russische Wirtschaft sei und der Wechselkurs angehoben worden sei, um den Haushalt aufzufüllen. Und natürlich erinnern sie daran, dass im Jahr 2022 nach der ersten Sanktionswelle nichts Schlimmes passiert sei.
Die Bots erklären den besorgten Einwohnern der Russischen Föderation, dass die Preise so gut wie gar nicht gestiegen seien, und wenn doch, dann nicht sehr stark – und wenn sie irgendwo stark gestiegen seien, dann seien die Löhne ebenfalls gestiegen, und im Allgemeinen «steigen die Preise vor allem in anderen Ländern, und niemand dort bekommt Mutterschaftsgeld, und kostenlose Kindergärten sind selten».
Unbezahlbarer Instantkaffee und teure Medikamente
Auf Sachalin und den Kurilen zum Beispiel reicht die Spanne der monatlichen Gehälter von 58 000 Rubel (519 Euro) bis 143 000 Rubel (1280 Euro). Gleichzeitig gibt es in der Inselregion immer noch Menschen, die weniger als 30 000 Rubel (268 Euro) pro Monat verdienen. Zu beachten ist auch, dass es nicht in allen Gebieten Arbeit gibt und dass diese meist saisonal ist. Und hier die aktuellen Preise für Lebensmittel: ein Weissbrot ab 0.74 Euro, 1 Liter Milch für 1.44 Euro, 200 Gramm Butter ab 3.01 Euro, 200 Gramm Frischkäse ab 3.05 Euro, 190 Gramm Instantkaffee für 5.85, weissrussische Äpfel für 3.40 pro Kilo, chinesische Kartoffeln für 2.19 pro Kilo, regionale Tomaten für 5.55 Euro das Kilo. Lachskaviar kostet 12.35 Euro pro 200 Gramm und ein Kilo Lachs 4.72 Euro. Übrigens ist der Preis in Moskau viel niedriger, selbst der Fisch aus Sachalin ist dort billiger – 3.22 Euro pro Kilo, und 200 Gramm Kaviar bekommt man für 10.74 Euro. Dies nur als Beispiel dafür, wie Moskau von den Regionen profitiert.
Im Gegensatz zu den Gehältern unterscheiden sich die Lebensmittelpreise auf Sachalin nicht allzu sehr von denen in Berlin. In einer vierköpfigen Familie, in der nur ein Elternteil arbeitet, kann der Kauf von Kleidung für die Familie zum unerschwinglichen Luxus werden. Allein eine Packung Babywindeln kostet 8.06 Euro. Und dann ist da noch das Auto, dessen Unterhalt wegen der Sanktionen, die der Kreml befürwortet, teuer geworden ist.
In Tschukotka sind die Preise dreimal so hoch wie auf Sachalin, während die Gehälter nur zweimal so hoch sind. In Kamtschatka ist die Situation die gleiche. Die Regionen des Fernen Ostens sind dagegen reich. Wegen des Öls, Gases, Golds, der Metalle, Diamanten und der Fischerei – dennoch gibt es überall kaputte Strassen, veraltete Infrastrukturen und ungenügende medizinische Versorgung. In den Dörfern und Kleinstädten Russlands finden die Menschen keine Arbeit, weil die Gebiete aussterben. Aber die Gouverneure berichten regelmässig, dass die Gehälter stiegen, dass die Armut abnehme und dass es fast keine Arbeitslosigkeit gebe. Die Arbeitslosen und Armen liegen vermutlich bereits auf den Feldern der Ukraine.
Putins Plan für 2025–2027
«Wie kann ich meinen Mann zur SWO (der sogenannten militärischen Spezialoperation) schicken?»: Nach den erhöhten Zahlungen an Freiwillige stieg die Zahl solcher Fragen auf der Suchmaschine Yandex sprunghaft an. Nach Angaben des Telegram-Kanals «Hallo, du bist ein ausländischer Agent» wurden solche Anfragen 2023 im Durchschnitt weniger als 200 Mal pro Monat gestellt, doch ein Jahr später ist die Inzidenz mehr als zwanzig Mal höher. Heute erhalten Vertragssoldaten unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung durchschnittlich 1,3 Millionen Rubel.
Vor dem Hintergrund der sich beschleunigenden Inflation verabschiedete Putin einen Haushaltsentwurf für die Jahre 2025–2027. Priorität wird dabei natürlich der Krieg haben, etwa 32,5 Prozent des Staatshaushalts sind für die Landesverteidigung vorgesehen (über 120 Milliarden Euro), dazu kommen 30 Milliarden Euro für die sogenannte «nationale Sicherheit und Rechtsdurchsetzung», was den Schutz des Staates vor unzufriedenen Einwohnern meint, und weitere 11,7 Milliarden Euro für den «Wiederaufbau und die soziale Entwicklung» der besetzten Gebiete. Ein Drittel der Ausgaben sind als «geheim» und «streng geheim» gekennzeichnet. Die Sozialausgaben werden um 16 Prozent gekürzt und machen nur noch 6 Prozent des Staatshaushalts aus. Denn der Präsident hat ein Interesse an Syrien, der Ukraine und Georgien, aber er hat kein Interesse an Russland.
Auch auf den Haushaltsentwurf haben die Kreml-Bots eine Antwort: «Die Lage ist jetzt akuter, also muss Russland den Konflikt endlich lösen. Und wenn wir im militärischen Bereich sparen, können wir die Renten, die Infrastruktur, verschiedene Unterstützungen usw. vergessen. Selenski spart den Haushalt kaputt, und wir alle sehen, was dabei herauskommt.»
Das von Lettland aus operierende Internetportal «Meduza» weist darauf hin, dass in der Erläuterung zum föderalen Haushalt für 2025–2027 das Wort «Patriotismus» 35 Mal erwähnt wird und im Allgemeinen etwa 448 Millionen Euro für die Stärkung der Liebe zum Vaterland bereitgestellt werden sollen. Schliesslich haben die russischen Behörden der verarmenden Bevölkerung nichts anderes zu bieten als Krieg, Gefängnis, Patriotismus und natürlich traditionelle Werte.
Medizinische Mangellage
In ganz Russland platzen währenddessen täglich Rohre, stürzen Häuser ein, und die vielgepriesene Stabilität, Putins ursprünglich eigenste Agenda, zerfällt. Fast täglich ereignen sich schwere Versorgungsunfälle in den Regionen, und das ist nicht verwunderlich, denn seit den späten achtziger Jahren hat sich niemand mehr um grössere Reparaturen oder den Austausch der Versorgungsnetze gekümmert. Tausende von Häusern befinden sich in Ermangelung grundlegender Reparaturen in einem desaströsen Zustand.
Nach Berechnungen des Instituts für volkswirtschaftliche Prognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften wird sich der Umfang der veralteten Wohnungen bis 2030 auf 54 Millionen Quadratmeter und bis 2040 auf 216 Millionen Quadratmeter erhöhen. Hunderttausende von Menschen leben bereits in unbewohnbaren Häusern, aber für ihre Umsiedlung ist kein Geld vorhanden. Ebenso wenig wird es Geld für die Umsiedlung von Bewohnern der Grenzregionen geben.
Das Niveau der medizinischen Versorgung sinkt, ebenso die Qualität der medizinischen Geräte, die nun in grossem Umfang nicht mehr im verfallenden Westen, sondern von chinesischen Partnern gekauft werden. «The Insider», ein unabhängiges Online-Medium, veröffentlichte kürzlich einen Text, in dem es heisst, dass 80 Prozent der russischen Ärzte bereits mit einem Mangel an Arzneimitteln und der schlechten Qualität medizinischer Verbrauchsgüter konfrontiert sind, weil russische Krankenhäuser traditionell die billigsten Produkte kaufen. Den Labors fehlt es an Qualitätsreagenzien für die Diagnostik, den Krankenhäusern an Ausrüstung und den Apotheken an Medikamenten.
Unaufhaltsamer Brand
Kürzlich kam es in St. Petersburg bei der Reanimation eines Patienten zu einem Kurzschluss in der Ausrüstung des Rettungsdienstes. Zuerst fingen die Decke und die Deckenbeleuchtung Feuer, dann griffen die Flammen auf den gesamten Raum über. Die Rettungskräfte evakuierten 15 Personen aus der Gefahrenzone, doch der Eigentümer der Wohnung konnte nicht gerettet werden. Ob der Fehler in der alten Verkabelung oder in der schlechten Qualität der Wiederbelebungs-Ausrüstung lag, ist noch nicht bekannt.
Aber noch ist nicht alles so schlimm, es wird noch schlimmer werden, denn es gibt keine Möglichkeit, diesen brennenden Zug aufzuhalten. Und diese ganz gewöhnlichen Menschen, die noch nie Dollar in der Hand hatten, werden vielleicht unter dem Dach eines Notstand-Gebäudes sterben, oder sie könnten in eine offene Kanalisationsluke fallen, und die Sanitäter werden sie nicht retten können – sie werden nicht die nötigen Mittel dazu haben. Diesen Menschen ist es egal, wie der Krieg in der Ukraine enden wird und wem die Krim gehört. Aber es gibt natürlich immer noch gute Nachrichten – dieses Mal hatten die Lehrer aus Nischni Tagil, einer 300 000-Einwohner-Stadt im Ural, Glück – die örtliche Gewerkschaft schenkte ihnen Zertifikate für Grabsteine.