1974 veröffentlichte Udo Jürgens das Lied, bei dem sich bis heute alle in den Armen liegen. Um Wein geht es nur am Rande – es ist ein Lied über ein Stück deutsch-griechischer Migrationsgeschichte.
Es war schon dunkel, als ich durch Vorstadtstrassen heimwärts ging…
So beginnt einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Schlager. Vor 50 Jahren, am 9. Dezember, veröffentlichte Udo Jürgens «Griechischer Wein». Der Song landete bald darauf in den deutschen Charts und eroberte Platz 1 der deutschen und Schweizer Hitparaden.
Obwohl der Titel und auch der Refrain «Griechischer Wein ist wie das Blut der Erde» als Erstes an eine kitschige Schnulze oder ein Sauflied für eine Ballermann-Party denken lässt, sind die Zeilen im Rest des Liedes tiefgründiger. Sie thematisieren ein Stück der Einwanderungs- und Migrationsgeschichte Deutschlands.
20 Minuten für die Melodie, zwei Jahre für den Text
Die Melodie hatte Jürgens bereits 1972 in wenigen Minuten komponiert, inspiriert von einem Urlaub auf der griechischen Insel Rhodos. Er hatte die «Bouzouki-Klänge noch im Ohr» und war fasziniert von der «fröhlichen Traurigkeit der griechischen Mentalität», wie er einst in einem Interview sagte. Bis zur Veröffentlichung sollte es aber noch dauern. «Das war eins der schwierigsten Lieder, die ich in meiner ganzen Laufbahn gemacht habe», sagte Jürgens in einem Interview. Denn der Text fehlte.
Udo Jürgens beauftragte den bereits damals erfolgreichen Liedermacher Michael Kunze, einen Text zu schreiben. Dieser solle ohne «Hellas-Touristen-Klischees» auskommen. Einer der Vorschläge von Kunze für den Refrain: «Sonja, wach auf, denn es ist schon hell am Morgen». Ein Lied über einen Mann, der nach einer Liebesnacht neben einer Frau erwacht.
Jürgens und Kunze stellten den Song ihrem Produzenten Ralph Siegel vor. Der fand die Melodie schön – «das klingt so griechisch» – , insistierte aber auf einem anderen Text. Macht doch etwas «Anspruchsvolles», schlug Siegel vor. Und dann kam Kunze die zündende Idee. In einem Interview sagte er, dass er sich daraufhin an seine Zeit in Stuttgart erinnert habe. An die griechischen Lokale, wo «niemand sonst reinging» und die Gastarbeiter unter sich blieben. Da habe er sich gesagt, «statt ein blödes Urlaubslied zu machen, machst du mal ein Lied, wo du diese Menschen beschreibst, die hier im Land sind und was die empfinden».
Dauerhafte Integration der «Gastarbeiter» war nicht geplant
Gastarbeiter, wie sie damals genannt wurden, waren Anfang der 1970er Jahre ein wichtiges Thema in Deutschland. Mit dem Aufschwung der Wirtschaft in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nicht genug einheimische Arbeitskräfte.
Die Unternehmen brauchten billige Arbeiter. Die BRD beschloss daraufhin, mit gezielter Anwerbepolitik Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen. 1955 wurde der erste Anwerbevertrag mit Italien geschlossen, 1960 folgten weitere Abkommen mit Spanien und Griechenland. Es folgten weitere unter anderem mit der Türkei, Portugal und dem damaligen Jugoslawien.
«Ein grosser Treck zieht seit Jahren gen Norden, Männer, Frauen, Halbwüchsige, eine mobile Reservearmee aus den Armenhäusern Europas – die Gastarbeiter», schrieb der «Spiegel» 1971. Vom Ende der 1950er Jahre bis zum Anwerbestopp im November 1973 kamen etwa 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland. Diese trugen massiv zum Wirtschaftswunder bei. Rund 11 Millionen kehrten später wieder in ihre Herkunftsländer zurück.
Aus Griechenland emigrierten zwischen 1960 und 1974 rund zwei der neun Millionen Einwohner ins Ausland, ein Grossteil davon nach Deutschland. Viele kamen damals mit dem Ziel, allenfalls ein paar Jahre in der Fremde zu arbeiten. So war es politisch vorgesehen, das impliziert schon der damals gebräuchliche Begriff Gastarbeiter. Eine dauerhafte Integration in die deutsche Gesellschaft strebte die Bundesrepublik damals nicht an – und auch die meisten der ausländischen Arbeitskräfte dachten wohl zu diesem Zeitpunkt, dass sie zurückkehren würden.
Das thematisiert auch «Griechischer Wein», wo es um zurückgelassene Ehefrauen und um Kinder geht, die ihren Vater noch nie gesehen haben. Sie sagen sich: «Irgendwann kommt er zurück.» Die Gastarbeiter versuchen zu sparen «für ein kleines Glück», sie leiden unter Heimweh:
Denn ich fühl’ die Sehnsucht
Wieder, in dieser Stadt
Werd’ ich immer nur ein Fremder sein, und allein
Diese Zeilen dürften die Gefühle vieler Ausländer damals gut getroffen haben. Viele lebten ein sehr bescheidenes Leben, gerade zu Beginn waren viele in Sammelunterkünften untergebracht. Der Kontakt zu den Einheimischen war oft begrenzt. Erst später, paradoxerweise nach In-Kraft-Treten des Anwerbestopps, holten viele Arbeiter ihre Familien nach.
Politische Anerkennung aus Athen für Udo Jürgens
Der «Spiegel» fragte Michael Kunze in einem Interview, wann ein Lied gut sei: «Wenn es eine Stimmung erzeugt und eine Geschichte erzählt.» Das gelang dem Trio Jürgens, Kunze und Siegel mit ihrem Sensations-Hit, der europaweit bekannt, übersetzt, gecovert wurde. Jürgens sang das Lied sowohl auf Französisch, «À mes amours», als auch auf Griechisch, «Phile kerna krassi».
In Griechenland ist das Lied nie allzu bekannt geworden. Doch es erhielt politische Aufmerksamkeit. Der damalige griechische Ministerpräsident Kostas Karamanlis lud Udo Jürgens zu einer Privataudienz ein. Er bedankte sich dafür, dass der Sänger das Thema Gastarbeiter so einfühlsam beschrieben hatte.
Udo Jürgens sang das Lied all die Jahre immer wieder, so auch im Jahr seines Todes 2014 bei seinem letzten Konzert in Zürich.