Mit dem 450 SEL 6.9 entwickelte Mercedes den hubraumstärksten Pkw-Achtzylinder der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ein Auto wie dieses hatte man bis dahin nicht gesehen.
Von aussen wirkt die Mercedes-S-Klasse alt und barock. Doch beim Blick auf den Kofferraumdeckel wird klar: Unter dem Blech stecken enorme Kräfte. Die Typenbezeichnung 450 SEL 6.9 bedeutet: Saugmotor mit acht Zylindern, fast 6,9 Litern Hubraum und 286 PS. Vor 50 Jahren war das eine Sensation. Dieses Automobil der S-Klasse, intern W116, ist mit Abstand die spektakulärste Limousine aus deutscher Produktion.
Dabei hätte es das Modell gar nicht geben dürfen. Denn die erste Ölpreiskrise 1973 dämpft den Markt für leistungsstarke Autos. Mercedes ist unsicher, ob ein neues, besonders hubraumstarkes Modell in die Zeit passt – und verschiebt den Marktstart um anderthalb Jahre.
Seit 1972 stellt Mercedes die Baureihe W116 her, nennt sie erstmals S-Klasse statt Oberklasse. Tester nennen das Modell «das beste Auto der Welt». Neu sind damals das moderne Design, die bulligen Doppelstossstangen, das Vier-Speichen-Lenkrad, die dick umschäumte Türverkleidung und schmutzabweisende, geriffelte Heckleuchten. Erstmals liegen bei der S-Klasse die Breitbandscheinwerfer flach in der Front.
Der Tankeinfüllstutzen versteckt sich nicht mehr unter dem hinteren Nummernschild, sondern auf der rechten Seite unterhalb der C-Säule. Der Tank wiederum sitzt weiter im Kofferraum und wird besser vor Auffahrunfällen geschützt.
Die Version mit 4,5 Litern Hubraum schaffte nicht mehr als 225 PS. Als im April 1975 der 450 SEL 6.9 auf den Markt kommt, ist die Begeisterung daher gross. Eine verlängerte Luxuslimousine mit der Power eines Sportwagens. So etwas hatte die Autowelt in Europa noch nicht gesehen.
«Passagiere konnten mit dem 450 SEL 6.9 lange Strecken schnell, sicher und entspannt zurücklegen. Das war damals einzigartig. Den Markt der Power-Limousinen gab es vor 50 Jahren nicht», sagt Frank Wilke, Geschäftsführer von Classic Analytics, einem Unternehmen, das spezialisiert ist auf die Marktbeobachtung und Bewertung von Oldtimern. Im Gegensatz zu Kleinserien wie von Monteverdi und De Tomaso oder Luxusmodellen von Jaguar oder Rolls-Royce bot der W116 auch bei Top-Speed eine gute Strassenlage. Etliche Künstler, Manager und Formel-1-Fahrer der Zeit setzten daher auf den grossen Benz als schnelle Reiselimousine.
Hubraum wie bei amerikanischen Strassenkreuzern
Als Antrieb wählt Mercedes den 6,3-Liter-V8 aus dem Vorgänger 300 SEL 6.3, vergrössert den Hubraum und auch die Leistung. 6,834 Liter, verteilt auf acht Zylinder, angeordnet in einer 90-Grad-V-Form, intern M100 genannt. 286 PS und 550 Nm bei 3000 Touren leistet das Triebwerk. Der Sprit wird über das K-Jetronic-System ins Saugrohr fein eingespritzt.
Höhepunkte des damals hubraumstärksten Triebwerks aus deutscher Produktion sind zudem der hydraulische Ventilausgleich und die Trockensumpfschmierung mit 12 Litern Fassungsvermögen im rechten Radhaus – wie bei reinrassigen Sportwagen. Das muss auch sein, weil sich sonst die Motorhaube über dem mächtigen Antrieb nicht schliessen lässt. Und auch so geht es unter der Haube sehr beengt zu. Kein Wunder, dass der 6.9er rund 230 Kilogramm mehr wiegt als der 450 SEL mit 4,5-Liter-V8.
Die schwere Fahrertür gibt den grossen Innenraum frei, fällt nach dem Einstieg satt schmatzend ins Schloss. Sofort fallen das riesige Lenkrad mit dem üppigen Pralltopf, die dick gepolsterten Türverkleidungen und der Tachometer auf – er reicht bis 260 km/h. Und das bei einer Limousine. Ein wenig Wurzelholz im Armaturenbrett verströmt Gediegenheit und Luxus. Dekadenz, gepaart mit schwäbischer Bescheidenheit. Im Fond des SEL herrscht Platz im Überfluss, die hinteren Türen sind zehn Zentimeter länger. Mit einer Länge von 5,06 Meter und einer Breite von 1,87 Meter sieht der Benz noch heute fett aus.
Vorne brabbelt dezent und gemächlich der V8, ist aber kaum zu spüren. Es ist diese Ruhe, die begeistert. Mit einem leichten Tipp aufs Gaspedal zieht die rund zwei Tonnen schwere Limousine los. Die drei Gänge der Automatik drehen sauber durch. In den zweiten Gang schaltet das Getriebe allerspätestens bei knapp 100 km/h, in den dritten bei 220 km/h, bei 5000 Touren. Im letzten Gang sind auf der Autobahn 225 km/h möglich.
Doch es ist der Durchzug, der den Antrieb ausmacht. Die 550 Nm liegen schon bei 3000 Touren an und laden zum entspannten Fahren ein. Das hohe Drehmoment sorgt dabei für eine lange Hinterachsübersetzung. Selbst bei über 180 km/h sind noch Gespräche im Innenraum möglich – was nur bei wenigen Autos dieser Zeit funktioniert. Mit 225 km/h Spitze zählt die S-Klasse zu den schnellsten Autos auf den Strassen. Der Porsche 911er SC (damals 42 950 Mark) fährt ebenso schnell, nur der 911 Turbo (zu der Zeit 79 900 Mark) ist mit 250 km/h schneller. Auch bei der Beschleunigung kann sich der 6.9er sehen lassen: Von 0 bis 100 km/h vergehen 7,4 Sekunden.
Meister der Geradeausfahrt
Nur schnelle Kurven mag der W116 nicht, auch wenn die Differenzialsperre mit 40 Prozent Sperrwirkung an der Hinterachse die Leistung auch in Kurven überträgt. Weder die schwammige Lenkung noch die dünnen 215/70-V-R14-Reifen sind für eine Kurvenhatz ausgelegt.
Dafür lässt es sich mit dem Benz entspannt gleiten, ohne auf den grossen Punch zu verzichten – wie bei einem spontanen Überholmanöver. Sanft röchelnd zieht sich der Mercedes dann ein paar Liter Sprit mehr rein – der Durchschnittsverbrauch von rund 20 Litern ist eher ein Richtwert, bei beherzter Fahrweise sind die 96 Liter Sprit im Tank zügig verbraucht.
Es ist aber nicht nur die schiere Power, die den 6.9er so besonders macht, sondern auch der diskrete Luxus im Innenraum. Hochwertiges und flauschiges Velours zählt zur Serienausstattung, Leder gibt es extra. Elektrisch verstellbare Rücksitze und Sitzheizung sind ebenso optional erhältlich. Klimaanlage, Scheinwerferreinigungsanlage, elektrische Fensterheber, Zentralverriegelung und ein Tempomat erhöhen weiter den Komfort. Leselampen in der hintersten Dachsäule ermöglichen es den Passagieren, ihre Akten durchzusehen oder eine Tageszeitung zu lesen. Zum teuersten und populärsten elektronischen Einzelextra im 450 SEL 6.9 zählt die Telefonanlage für damals rund 18 000 Mark – für so viel Geld gibt es alternativ bereits einen Mercedes 280 («Strich-Acht»). Ab 1978 bietet Mercedes erstmals serienmässig ABS an.
Neben der Kraft gefällt den Besitzern vor allem der Komfort. Mercedes integriert im König der Autobahn erstmals eine hydropneumatische Federung, quasi eine Gasfederung mit einer hydraulischen Niveauregulierung. Die Vorderachsen-Konstruktion stammt aus dem Versuchsfahrzeug C 111. Vier Federelemente übernehmen die Aufgaben der Stossdämpfer, bestehend aus Federbein und Federspeicher, die untereinander verbunden sind. Eine Öldruckanlage und zwei Niveauregler sorgen für eine ausgeglichene Lage des Fahrzeugs über der Strasse und immer maximalen Federweg.
Das Ölvolumen wird in den Federbeinen durch die Öldruckanlage vergrössert oder verkleinert und sorgt damit für ein gleichbleibendes Niveau. Bei starkem Beschleunigen verhindert ein Anfahrmoment-Ausgleich trotz den 550 Nm, dass das Heck eintaucht. Wie eine Sänfte federt der Benz selbst auf üblen Strassen ab, sogar bei Höchstgeschwindigkeit. Mit dem 6.9 führt Mercedes ab 1978 erstmals bei einem Grossserienfahrzeug ABS ein (Jensen hatte mit einem ähnlichen System schon 1965 experimentiert). Vom Armaturenbrett lässt sich die Karosserie per Ziehhebel anheben.
Die Power-S-Klasse wird schnell zur mobilen Schaltzentrale der Mächtigen in Europa und der Stars in den USA. Die Kombination aus kräftigem Antrieb, Sänften-Fahrwerk und verlängertem Radstand macht den 450 SEL 6.9 zur perfekten Langstrecken-Limousine. Das alles lässt sich Mercedes fürstlich bezahlen. Im April 1975 kostet der Super-Benz 69 930 Mark und damit 25 430 Mark mehr als der 450 SEL. Bis 1979 werden es sogar 81 247 Mark sein. Insgesamt 7380 Fahrzeuge stellen die Stuttgarter her (vom 450 SEL wurden 59 578 gebaut), bis der Nachfolger W126 erscheint. Den stellt Mercedes zwar ab 1980 mit grossvolumigen V8-Motoren her, aber anfangs «nur» mit 5 Litern Hubraum und ab 1985 mit 5,6 Litern. Nach der zweiten Ölpreiskrise 1979 sind grossvolumige Motoren nicht mehr en vogue.
«Noch heute zeichnet die besondere Technik mit hydropneumatischer Federung, Trockensumpfschmierung, Hydrostössel und hoher Leistung den 6.9 aus», sagt Frank Wilke. Gut erhaltene Modelle mit der Zustandsnote 2 kosten heute nach Classic Analytics rund 45 000 Euro. «Dafür liegen die Wartungs- und Unterhaltskosten der komplizierten Technik gut doppelt so hoch wie beim 450 SEL», sagt Wilke.
Viele 450 SEL 6.9 werden mit der Option 261 bestellt, dem Wegfall der Hubraumangabe auf dem Kofferraumdeckel. Das bedeutet, dass das Modell nur von Eingeweihten an den breiten Reifen und den grösseren Endrohren erkannt wird.