Der Vorschlag des Bundesrats zur Einführung der Individualbesteuerung soll für Viele Entlastungen und für Wenige Mehrbelastungen bringen. Die Regierung will die Steuersenkung von netto etwa einer Milliarde Franken pro Jahr möglichst ausgewogen auf die Einkommensgruppen verteilen.
Die Familienbesteuerung in der Schweiz ist eine jahrzehntelange Baustelle. Die Kritik am Status Quo ist gängig, doch eine mehrheitsfähige Reform lässt auf sich warten. Denn jede Reform erkauft sich die erhofften Vorteile mit neuen Nachteilen. Im Parlament ist immerhin der Grundsatz der Einführung der Individualbesteuerung mehrheitsfähig. Der Bundesrat hat am Mittwoch seinen definitiven Vorschlag zur Individualbesteuerung vorgelegt – im Auftrag des Parlaments und als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative für die Individualbesteuerung.
Verschärfung des Steuertarifs
Ehepaare sollen künftig separat besteuert werden und auch separate Steuererklärungen ausfüllen. Bei den jetzigen progressiven Steuertarifen würde dies vor allem Doppelverdiener-Ehepaare mit beidseits hohen Einkommen deutlich entlasten, weil bei beiden Ehepartnern die Progressionsstufen jeweils bei Null beginnen.
Ohne Begleitmassnahmen wäre das kaum mehrheitsfähig. Zu den grundsätzlichen Gegnern der Individualbesteuerung (vor allem SVP, Mitte-Partei und eine grosse Mehrheit der Kantone) käme dann auch noch die Linke als Oppositionsfaktor hinzu. Denn der Bund müsste mit hohen Einkommenseinbussen rechnen, und der unmittelbare Nutzen wäre stark auf Hochverdiener konzentriert.
Der Bundesrat schlägt deshalb eine Verschärfung des Steuertarifs vor. Die Basis ist der jetzige Steuertarif für Alleinstehende, da es einen Verheirateten-Tarif künftig nicht mehr braucht. Die maximale Gesamtsteuerbelastung bleibt bei 11,5 Prozent (dem Maximum der Gesamtbelastung gemäss Bundesverfassung), die maximale Grenzsteuerbelastung für gewisse Einkommensteile steigt leicht von 13,2 auf 13,3 Prozent.
Und innerhalb dieser Bandbreite ist die Progression verschärft: Sie beginnt später, und die höheren Sätze greifen früher. So sollen künftig auf der Basis des Steuertarifs von 2024 erst Einkommen ab 20 000 Franken steuerpflichtig sein statt ab 18 300 Franken. Die maximale Gesamtsteuerbelastung von 11,5 Prozent wäre künftig bei einem Einkommen von 751 100 Franken statt 783 300 Franken erreicht.
Höherer Kinderabzug
Zudem wird der Kinderabzug von 6700 Franken auf 12 000 Franken erhöht und je zur Hälfte auf die Eltern verteilt. Zurückgezogen hat der Bundesrat wegen des Widerstandes in der Vernehmlassung seinen ursprünglichen Vorschlag zur Einführung eines Haushaltsabzugs für Alleinstehende und Alleinerziehende.
Die Steuertarife sind so gewählt, dass die Reform per saldo zu einer Entlastung bei der Direkten Bundessteuer von etwa einer Milliarde Franken pro Jahr führt; das entspricht einer Entlastung von gut 7 Prozent. Davon gehen 800 Millionen zulasten des Bundes, der Rest betrifft den Kantonsanteil.
Wie jede Reform hat auch diese Gewinner und Verlierer. Gemäss der Forschungsliteratur wiegt der Verlust eines Frankens etwa doppelt so schwer, wie der Gewinn eines Frankens Freude bereitet. Die Verlierer schreien deshalb lauter, als die Gewinner klatschen. Deshalb gehört es zu den Binsenweisheiten in Bundesbern, dass für chancenreiche Steuerreformen die Zahl der sichtbaren Gewinner jene der sichtbaren Verlierer deutlich übersteigen sollte. Mit der vorgeschlagenen Reform würden bei der Direkten Bundessteuer laut Bundesrat 53 Prozent der Steuerpflichtigen entlastet, und 11 Prozent müssten mehr zahlen.
Ausgewogenheit angestrebt
Für seine Verteilungsanalyse teilte der Bund die Steuerpflichtigen in zehn gleich grosse Einkommensklassen auf. Laut der Analyse bringt die Reform für alle steuerpflichtigen Einkommensgruppen eine Entlastung. Gemessen an den absoluten Beträgen ist die Entlastung bei der höchsten Einkommensklasse (Reineinkommen über 98 000 Franken) am höchsten – mit gut 400 Franken pro Kopf im Durchschnitt.
Doch rund die Hälfte in der obersten Einkommensklasse muss mehr zahlen. Im Prozent der bisherigen Steuerzahlungen ist die Entlastung bei den tiefsten steuerpflichtigen Einkommen am grössten und bei den höchsten Einkommen am kleinsten. In Prozent der verfügbaren Einkommen ist die Entlastung in der oberen Hälfte höher als in der unteren Hälfte, aber innerhalb der oberen Hälfte ist die Entlastung ziemlich gleichmässig verteilt. Diese Kombination soll das Bild der Ausgewogenheit vermitteln.
In den meisten Fallkonstellationen gibt es mehr Gewinner als Verlierer. Besonders ausgeprägt sind die Entlastungen für Ehepaare mit relativ gleichmässiger Einkommensverteilung; dazu gehören auch viele Rentnerpaare. Auch bei den Alleinstehenden gibt es wegen den Tarifänderungen deutlich mehr Gewinner als Verlierer. Zu den Verlierern zählen am ehesten Einverdienerehepaare mit Kindern, weil der bisherige Verheiratetentarif wegfällt und der Kinderabzug wegen der hälftigen Aufteilung auf die Eltern an Wirkung verliert.
Finanzierungsbedarf
Doch das Bild der vielen Gewinner ist nur eine Momentaufnahme. So müsste der Bund seine Einbussen kompensieren – durch Reduktion seiner Ausgaben oder Erhöhung anderer Steuern. Das würde bei den Betroffenen zu Mehrbelastungen führen. Die Reform würde die ohnehin schon düsteren Finanzperspektiven des Bundes noch weiter verschlechtern. Doch zurzeit ist völlig unklar, wann die Steuerreform umgesetzt wird und wie der Bund die Einbussen wettmachen würde.
Immerhin ist durch die Steuerentlastung mit einer Belebung der Erwerbstätigkeit zu rechnen. Dies vor allem, weil die Entlastung bei den Doppelverdienern am grössten ist, und damit der zusätzliche Erwerbsanreiz für Zweitverdiener die Erwerbsbremsen für die Verlierer klar überwiegen würde.
Laut der internationalen Forschungsliteratur reagieren Zweitverdiener (immer noch meistens die Frauen) deutlich stärker auf eine Änderung der Nettolöhne beziehungsweise der Steuersätze. Der Bund rechnete aufgrund der Literatur mit folgenden Reaktionsmustern: Steigt der Lohn abzüglich Steuern um 10 Prozent, nimmt die Erwerbstätigkeit um 2 bis 9 Prozent zu. Im Jargon der Ökonomen: Die «Elastizität» beträgt 0,2 bis 0,9. Bei den Ersteinkommen reicht die Bandbreite der verwendeten Schätzungen von 0 bis 0,3 und bei den Alleinstehenden von 0,1 bis 0,4.
Auf dieser Basis schätzt der Bund die Zunahme der Erwerbstätigkeit als Folge der vorgeschlagenen Reform bei der Direkten Bundessteuer auf 2600 bis rund 11 000 Vollzeitstellen, mit einer mittleren Schätzung von knapp 7000 Stellen. Dies würde voraussichtlich nur einen kleinen Teil der kurzfristigen Steuereinbussen kompensieren. Allerdings könnten die Zusatzeinkommen bei den Bürgern mittelfristig via Mehrkonsum und Mehrinvestitionen zum Teil auch wieder zum Staat zurückfliessen.
Kantone müssten mitziehen
Kaum bestritten ist, dass auch die Kantone und Gemeinden die Individualbesteuerung einführen müssten, um ein Chaos zu vermeiden. Da auch die Kantone auf die Mehrheitsfähigkeit achten müssen, ist per saldo auch mit Entlastungen für die Steuerpflichtigen auf kantonaler Ebene zu rechnen. Der Systemwechsel auf allen Ebenen könnte daher laut Hochrechnung des Bundes die Erwerbstätigkeit der Inländer um 10 000 bis 44 000 Vollzeitstellen erhöhen, mit einer mittleren Schätzung von 27 000 Stellen. Dieser positive Effekt reduziert sich, wenn Bund und Kantone ihre Mindereinnahmen durch Sparübungen oder höhere andere Steuern kompensieren müssen.
Die verstärkten Arbeitsanreize sind wohl das beste Argument für die Einführung der Individualbesteuerung. Die Beseitigung der angeblichen «Heiratsstrafe» ist ein weit schwächeres Argument, weil es gemäss den jüngsten Schätzungen des Bundes von 2022 schon nach geltendem Recht bei der Direkten Bundessteuer im Vergleich zu Konkubinatspaaren mehr bevorzugte als benachteiligte Ehepaare gibt. Damit gilt zurzeit wieder, was schon bis zur früheren Schätzkorrektur von 2018 gegolten hatte: Per saldo gibt es eher einen steuerlichen Heiratsbonus als eine Heiratsstrafe.
Die vorgeschlagene Reform brächte zudem neue Irritationen. So fahren in vielen Fällen Einverdiener-Ehepaare schlechter als Doppelverdiener-Ehepaare mit gleichem Gesamteinkommen. Die gelebte Realität von Ehepaaren dürfte immer noch näher beim Modell der Wirtschaftsgemeinschaft sein als beim Modell «jeder für sich». Ironischerweise liefert das genannte Arbeitsmarktargument für die Reform (Zweitverdiener reagieren viel stärker auf Steueranreize als Erstverdiener) einen Beleg für das Bild der Ehe als Wirtschaftsgemeinschaft; in der Individualbetrachtung von zwei Ehepartnern dürfte es keine unterschiedlichen Reaktionsmuster geben.
Widerstand der Kantone
Bei der individuellen Betrachtung müsste künftig der einkommensschwache Ehepartner einer Millionärin eine staatliche Verbilligung der Krankenkassenprämien erhalten. Der Bund will hier den Kantonen für die Prämienverbilligung keine neuen Vorgaben machen. Die Kantone stützen sich laut Bundesangaben bisher bei den Ehepaaren auf die Steuerdaten der Haushalte. Ob sie bei der Prämienverbilligung auch im Regime der Individualbesteuerung weiter die Haushaltsbetrachtung vorziehen, ist allem Anschein nach noch offen.
Hinzu kommt der administrative Mehraufwand durch die Reform mit zusätzlich etwa 1,7 Millionen Steuererklärungen pro Jahr und der nötigen Aufteilung von Vermögensteilen auf die Ehepartner. Das ist ein oft genannter Grund für die Ablehnung der Reform durch die meisten Kantone. Für den Fall eines Systemwechsels fordern die kantonalen Finanzdirektoren eine Umsetzungsfrist von «mindestens zehn Jahren». Das ist ein ziemlich starkes Stück.