Der Westen ist für Naoíse Mac Sweeney ein intellektuelles Konstrukt, das Expansion und Imperialismus rechtfertigen soll: Dem versucht die irische Archäologin eine neue «grosse Erzählung» entgegenzusetzen.
Die empirische Wissenschaft, eine praktisch-rationale Lebensführung, rationale harmonische Musik, aber auch die schrankenlose Erwerbsgier des modernen Kapitalismus – das alles sei typisch westlich, schrieb der Soziologe Max Weber einmal. Da kommt vieles und viel Gegensätzliches zusammen. In die Charakterisierungen des «Westens» mischt sich nicht selten Kritik, oft sogar offene Ablehnung. Da klingt es fast erstaunlich, wenn Naoíse Mac Sweeney von einer «grossen Erzählung von der westlichen Zivilisation» spricht.
So nennt die Archäologin, die seit 2020 an der Universität Wien lehrt, das Leitmotiv, das seit über zweitausend Jahren nahezu ungebrochen reproduziert werde. Damit soll, so Mac Sweeney, die Vorstellung von einem gemeinsamen Ursprung, einer gemeinsamen Geschichte, einem gemeinsamen Erbe und einer gemeinsamen Identität des Westens bekräftigt werden.
Diese «Standarderzählung», kritisiert Mac Sweeney, sei erstens sachlich falsch und zweitens in hohem Mass ideologisch: «Sie hat die Westliche Expansion und den Westlichen Imperialismus gerechtfertigt und rechtfertigt heute die fortbestehenden Systeme Weisser Dominanz», schreibt sie. Natürlich fragt sich der Leser, gegen wen und was sich diese mit Aplomb vorgetragenen Thesen und das Bemühen der Autorin um eine neue Geschichte der alten Idee westlichen Denkens richten.
Von Moses bis Beethoven
Naoíse Mac Sweeney beantwortet die Frage, indem sie von einem Schlüsselerlebnis erzählt, das der Auslöser zu ihrem Buch «Der Westen. Die neue Geschichte einer alten Idee» gewesen sei: Im Lesesaal der Library of Congress in Washington habe sie, als ihr Blick durch den Raum geschweift sei, auf der Galerie unter der vergoldeten Kuppel sechzehn lebensgrosse Bronzestatuen entdeckt, die offensichtlich den Westen hätten verkörpern sollen: Moses und Homer, Solon und Herodot, Platon und Paulus, Kolumbus und Michelangelo, Bacon, Shakespeare, Newton, Beethoven und Gibbon, aber auch der Jurist James Kent, der Ingenieur Robert Fulton und der Physiker Joseph Henry.
Sie habe sich gefragt, ob diese Persönlichkeiten tatsächlich den Westen repräsentierten. Als Tochter chinesisch-irischer Eltern war ihr die Antwort sofort klar: Die Reduktion des Westens auf weisse männliche Geistesgrössen bedürfe einer Korrektur. Damit trifft Mac Sweeney den Nerv einer Zeit, in der die westliche Dominanz im Zeichen von Dekolonialisierung, Geschlechtergerechtigkeit kritisiert wird.
Dabei äussert sich die Kritik der Archäologin und Historikerin nicht in offenen Briefen oder Manifesten zu einer der vielen gegenwärtigen Krisensituationen, in denen die Haltung des Westens stigmatisiert wird. Sondern eben in einem Buch, dessen Ziel es ist, eine neue Geschichte des Westens zu schreiben: In vierzehn Kapiteln unter einem jeweils programmatischen Titel und unter Bezug auf zumeist weniger bekannte historische Personen erinnert Mac Sweeney an Aspekte der westlichen Welt, die im Zeichen zunehmender männlicher und weisser Dominanz verlorengegangen seien.
Mit dem Blick des anderen
Manche Einwände überzeugen sofort. Etwa wenn unter dem Titel «Die Absage an Reinheit» mit dem archaischen, aber nach wie vor lebendigen Phantasma einer homogenen und ihren Nachbarn überlegenen Bevölkerung Europas aufgeräumt wird. Auch wenn sie sich anhand der Renaissancephilosophin Tullia d’Aragona mit der Neuinterpretation der Antike beschäftigt, rennt die Autorin offene Türen ein.
Denn die Renaissance war keinesfalls nur eine ideologische Rekonstruktion der Antike mit dem Ziel, diese für die Zwecke einer europäischen Weltherrschaft zu instrumentalisieren. Der Vorwurf der Islamophobie an die Denker des 16. Jahrhunderts zielt ins Leere, und kaum haltbar ist auch die These, dass der Rassismus seine Ursprünge in der Antike habe. Interessant wäre es gewesen, das Phänomen des Rassismus mit dem Universalisierungsgedanken der jüdischen und der christlichen Tradition zu konfrontieren. Das Christentum wird von Mac Sweeney allerdings nur als «Illusion» abgehandelt, womit sein immenser Einfluss auf die Zeitvorstellungen der Menschen und seine Bedeutung für die Legitimation säkularer Herrschaft unterschätzt wird.
Dabei zieht sich ein interessanter roter Faden durch dieses Buch, und das lässt seine Lektüre letztlich zu einem Gewinn werden: Denn als das Wesensmerkmal des «Westens» arbeitet Naoíse Mac Sweeney seine Fähigkeit heraus, sich immer wieder kritisch zur eigenen Identität zu verhalten und sich selbst aus dem Blick des anderen zu betrachten: «Die Grosse Erzählung von der Westlichen Zivilisation mag dem Westen eine mächtige ideologische Waffe für sein Arsenal verschafft haben», schreibt sie, «doch sie lieferte auch einer Reihe subalternen Stimmen ein mächtiges Instrument zur Subversion».
Subalterne Stimmen
Insgesamt vierzehn solcher «subalterner» Stimmen kommen im Buch zu Wort. Bald mehr, bald weniger überzeugend. Stimmen, die sich als Gegenspieler der Säulenheiligen des westlichen Selbstverständnisses aus der Library of Congress verstehen. Einige von ihnen sind freilich nicht so subaltern und unbekannt, wie die Autorin behauptet:
In der Absage an die Vorstellung einer ethnischen Reinheit des Westens beruft sich Mac Sweeney auf Herodots selbstkritische Auseinandersetzung mit der griechisch-persischen Feindschaft. Warum dabei ausgerechnet Perikles und seine Gefallenenrede aus dem Peloponnesischen Krieg als negative Kontrastfolie dienen, bleibt indes unklar. Und im Kapitel über den Westen und seine Kritiker kommt mit Edward W. Said eine Stimme zu Wort, die längst Teil des Selbstverständigungsdiskurses westlichen Denkens und somit keinesfalls mehr subaltern ist.
Es ist wohl weniger das Erbe der alten weissen Männer, von dem Gefahr für Vielfalt, Innovation, Weltoffenheit und die Fähigkeit zu Selbstkritik ausgeht: Gefährlich wird es für den «Westen», wenn dieses Erbe denjenigen überlassen wird, die es benutzen, um Europa und Nordamerika gegen den Rest der Welt abzuschotten. Naoíse Mac Sweeneys Buch erinnert daran, wie wertvoll dieses Erbe ist und dass seine Geschichte immer wieder neu erzählt werden muss.
Naoíse Mac Sweeney: Der Westen. Die neue Geschichte einer alten Idee. Propyläen-Verlag, Berlin 2023. 528 S., Fr. 49.90.