Die Bundespräsidentin räumt ein, die Polemik um das angebliche Milliardenloch in der Armee unterschätzt zu haben. Und sie erklärt, wie es um die Verteidigungsfähigkeit des Landes wirklich steht – und um den von der Schweiz angestossenen Ukraine-Friedensgipfel.
Frau Bundespräsidentin, es gibt kein Milliardenloch in den Armeefinanzen.
Genau.
Warum haben Sie drei Wochen gebraucht, um das der Schweiz zu erklären?
Ich habe das direkt so gesagt. Am Tag nachdem diese Geschichte in den Medien aufgekommen war, war ich ja in der Sicherheitskommission des Ständerats. Beim Hinausgehen habe ich den Medien gesagt, dass es dazu nichts zu sagen gebe, ausser eben: dass es kein Loch gibt.
Sie haben das – im wahrsten Sinn – «en passant» in die Kameras gesagt. Am gleichen Tag musste Armeechef Thomas Süssli allein vor die Medien treten. Rückblickend: Wäre nicht bereits dieser erste Auftritt Chefinnensache gewesen?
Das wäre sicher eine Option gewesen. Wir haben es im Departement aber so geregelt, dass jedes Amt für seine Kommunikation selber verantwortlich ist. Deshalb habe ich es auch als richtig erachtet, dass sich der Chef der Armee, der die Finanzen und alle Details bestens kennt, dazu äussert. Dieser Ablauf schien für mich normal, weil – wie gesagt – es kein Milliardenloch gab und gibt. Aber vielleicht habe ich das Ausmass des angeblichen Skandals zu Beginn unterschätzt.
Betreibt SRF, das als erstes Medium von einem Milliardenloch sprach, Falschinformation?
Das wäre zu hart gesagt.
Wie würden Sie es sagen?
Es liegt wohl am mangelnden Verständnis. Der Journalist von SRF hat ein Dokument zugesteckt bekommen und daraus seine Schlüsse gezogen. Nur waren diese einfach falsch. Ich war seither in den Finanz- und Sicherheitspolitischen Kommissionen beider Räte, und dort haben es alle verstanden.
Also sind die Medien zu dumm?
Ich werde mich nicht über die Intelligenz von anderen äussern, da habe ich genug mit mir selbst zu tun. Fakt ist: Die Parlamentarier, die sich näher mit den Armeefinanzen beschäftigen, konnten es auch einfacher nachvollziehen. Für jemanden, der nicht so tief im Thema steckt, ist es wohl schwieriger.
Es ging auch viel um Semantik. Wieso wurde beispielsweise der Begriff «Liquiditätsengpass», den der Chef der Armee verwendet, plötzlich zu einem riesigen Politikum? Zumal dieser innerhalb des Departements schon lange gebräuchlich ist.
Intern haben wir den Begriff immer schon so verwendet. Aber eben nicht mit der Bedeutung, dass man seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann. Hier haben in der Kommunikation das interne Verständnis und der allgemeine Sprachgebrauch nicht übereingestimmt. Auch als Notarin weiss ich: Spricht ein Unternehmer von einem «Liquiditätsengpass», ist es mit der Deponierung der Bilanz nicht mehr weit her.
Fassen wir zusammen: Es gibt erstens eine Bugwelle von Verpflichtungen aus früheren Rüstungsprogrammen, die nach dem VBS-internen Sprachgebrauch zu einem «Liquiditätsengpass» führen kann. Und dann stehen Gelder erst später zur Verfügung, welche die Armee braucht, um die Verteidigungsfähigkeit rechtzeitig wiederherzustellen.
Und dann gibt es noch eine dritte Ebene – die laufenden Betriebskosten . . .
. . . die man nun mit der Absage von Flug- und Heershows drosseln will.
Genau. Diese drei Ebenen, die miteinander null und nix zu tun haben, wurden in der Berichterstattung miteinander vermischt. Das hat es von aussen noch schwieriger gemacht, den Durchblick zu bewahren.
Hat es Sie persönlich getroffen, dass das besagte Dokument mutmasslich vom Armeestab an SRF durchgestochen wurde? Sie haben sich für Ihr Präsidialjahr auch vorgenommen, die Informationslecks besser abzudichten.
Damit meinte ich in erster Linie den Bundesrat, und «getroffen» ist wohl das falsche Wort. Aber es gibt mir schon zu denken. Mit solchen Aktionen schadet man der Armee, und man verstärkt die Unsicherheit, die innerhalb der Bevölkerung angesichts der geopolitischen Bedrohungslage schon gross genug ist. Seit nunmehr drei Wochen diskutieren wir pausenlos wegen . . . nichts. Glauben Sie mir, ich und mein Departement, wir hätten Gescheiteres zu tun gehabt.
Nach München an die Sicherheitskonferenz zu reisen, zum Beispiel.
Zum Beispiel, ja.
Eine Teilnahme wäre für Sie wichtig gewesen, um den vor dem WEF angestossenen Ukraine-Friedensgipfel weiter voranzutreiben. Jetzt haben Sie wegen der Polemik im Inland diese einmalige Chance verpasst.
Natürlich ist es schade, aber es ist auch kein Weltuntergang. Leider hatte auch Aussenminister Ignazio Cassis keine Zeit, um in München teilzunehmen. Aber wir waren mit Markus Mäder, unserem Staatssekretär für Sicherheitspolitik, gut vertreten. Zudem haben wir am WEF in Davos den Grossteil der Teilnehmer von München bereits getroffen und dabei den Friedensgipfel angesprochen.
Wie kommen Sie mit den Planungen für den Friedensgipfel voran?
Wir hoffen, noch bis Sommer eine erste Runde durchführen zu können. Dabei war für mich und meinen Kollegen Ignazio Cassis immer klar, dass der Friedensgipfel erfolgversprechend sein muss. Das heisst nicht, dass wir schon im ersten Schritt zum Ziel kommen, aber es braucht eine Perspektive.
Haben Sie in der Zwischenzeit auch positive Signale der Russen erhalten?
So wie es im Moment aussieht, wird Russland an einer ersten Konferenzrunde nicht teilnehmen. Wir sind daran, mit einer sehr breiten Allianz, bestehend aus den Brics-Ländern, Ländern aus der arabischen Welt sowie aus dem globalen Süden, zu starten.
Für die Ukraine ist es ja wichtig, dass klarwird, dass sich Krieg als Durchsetzungsmittel des politischen Willens nicht mehr auszahlen soll.
Genau. Dieses Ansinnen teilt die Schweiz. Als Kleinstaat stehen wir ein für das internationale Recht, nicht für das Recht des Stärkeren.
Gleichzeitig wissen wir hier alle, dass es ohne Eingeständnisse an die Russen in absehbarer Zeit wohl keine Waffenruhe, geschweige denn einen Frieden geben wird. Haben Sie noch eine qualifizierte Hoffnung, dass Sie Russland irgendwann einmal an einen Tisch bringen?
Im Moment ist es sicherlich schwierig. Aber es lohnt sich nach wie vor, es wenigstens zu versuchen.
Statt in München entsprechende Allianzen zu schmieden, mussten Sie dem Parlament wegen eines Nichtskandals Red und Antwort stehen.
Wir mussten abwägen und haben entschieden, uns vor den Kommissionen zu erklären. Der Ruf des Parlaments hat immer Priorität.
Böse zugespitzt, kann man sagen: Statt für Frieden in der Ukraine mussten Sie für Ihren eigenen Ruf und den der Armee kämpfen.
Es geht hier nicht um meinen Ruf, sondern darum, dass die Armee das Vertrauen nicht verliert. Das wäre in der heutigen geopolitischen Lage verheerend. Deshalb war es mir auch wichtig, dass ich den parlamentarischen Kommissionen zur Verfügung stehe. Wie schon gesagt: Man kann von mir aus darüber diskutieren, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich nach den ersten Berichten vor die Medien getreten wäre anstelle des Armeechefs.
Der Chef der Armee wurde in den Medien teilweise kritisiert, weil er vehement auf sich öffnende Fähigkeitslücken innerhalb des Heers hingewiesen hat. Wir finden, das ist seine Pflicht – vor allem den Truppen gegenüber. Was finden Sie?
Ich betrachte es auch als Aufgabe des Armeechefs, dass er offen und ehrlich sagt, was fehlt und was man machen muss. Er und ich haben dort auch keine Differenz. Es ist offensichtlich, dass die Fähigkeitslücken nun weniger schnell geschlossen werden können, nachdem der Bundesrat und das Parlament entschieden haben, die Armeeausgaben nun doch erst ab 2035 auf ein Prozent des BIP anwachsen zu lassen und nicht bereits ab 2030 wie ursprünglich beschlossen.
Aber teilen Sie die Einschätzung des Armeechefs? Verliert die Schweizer Armee mit dem langsameren Ausgabenwachstum ab 2030 tatsächlich ihr Heer?
Der Armeechef spricht von temporären Fähigkeitslücken. Das heisst, es wird zwangsläufig zu vorübergehenden Lücken kommen, wenn die alten Systeme an ihr Ende gelangen und wir die neuen mangels Finanzen noch nicht beschaffen konnten.
Das heisst konkret: Ohne Erneuerung der Artillerie 2026 verliert die Armee das indirekte Feuer, ohne indirektes Feuer ist das Gefecht der verbundenen Waffen nicht mehr möglich . . .
. . . auch wenn die Kommunikation ausfällt, funktioniert nichts mehr. Es handelt sich um einzelne Systeme, die im Verbund genutzt werden. Wir werden gewisse Lücken nicht ganz vermeiden können, tun aber alles dafür, diese so kurz wie möglich zu halten. Wichtig wird sein, dass wir jeweils einen gewissen Teil der Systeme beschaffen können, um mindestens die Ausbildungen weiterzuführen und damit das Savoir-faire in den Truppen zu erhalten.
Gemäss «Tages-Anzeiger» stellten Sie für die entscheidende Bundesratssitzung, das war im Januar 2023, keinen Antrag, um sich gegen diese fatale Erstreckung der Armeeausgaben von 2030 auf 2035 zu wehren. Und dies, nachdem Sie bei der Departementsverteilung ein paar Wochen zuvor auf das Uvek verzichtet hatten und «aus Überzeugung» im VBS geblieben waren. Diese Überzeugung scheint nicht lange gehalten zu haben.
Ich kann hier nicht mit Ihnen eine Bundesratssitzung rekonstruieren. Was klar ist: Entsprechende Motionen aus dem Parlament haben einen Aufwuchs der Armeefinanzen bis 2030 verlangt. Diese hat der Bundesrat auf meinen Antrag hin angenommen, jedoch mit dem entscheidenden Zusatz, dass der Finanzhaushalt jeweils zu berücksichtigen ist. Sonst – wer weiss – wären diese Motionen vielleicht gar nicht erst angenommen worden im Bundesrat, auch dort brauchen Sie nämlich eine Mehrheit. Danach wurde immer klarer, wie schlecht es um die Finanzlage des Bundes steht . . .
. . . aber das hat man ja kommen sehen.
Ja, aber irgendwann lagen die konkreten Beträge auf dem Tisch. Und alle Departemente mussten ihren Beitrag leisten, auch das VBS. Wir konnten uns in der Regierung darauf einigen, dass die Armeeausgaben zwar um fünf Jahre auf 2035 gestreckt werden, wir dafür aber nicht von linearen Kürzungen betroffen sein werden.
Wachsende Fähigkeitslücken bei wachsender Bedrohungslage – der Armeechef Süssli sagte in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger», dass er diese Situation nicht verantworten könne. Können Sie?
Was heisst hier verantworten? Wir können nicht mehr Geld ausgeben, als dass wir zur Verfügung haben.
Wenn der Logistikchef der Armee in der «Rundschau» von SRF sagt, dass wir «unsere Töchter und Söhne» mit veralteten und ungeeigneten Geräten in den Kampf schicken müssen – können Sie das verantworten?
In einem Ernstfall müsste man den Einsatz genau anschauen. Ich würde es nie in Kauf nehmen, dass wir unsere Leute so offensichtlich gefährden, wie es der Logistikchef in seinem Beispiel angeführt hat.
Aber wenn der Chef der Armee sagt, dass er den sich abzeichnenden Zustand der Armee nicht verantworten könne, ist er dann immer noch der Richtige? Halten Sie zu ihm?
Natürlich halte ich an Armeechef Süssli fest. Wir sind uns zu hundert Prozent einig, dass wir die sich abzeichnenden Fähigkeitslücken so rasch wie möglich schliessen müssen. Wir haben dabei aber einen anderen Fokus. Seine Aufgabe ist es, sich um die Armee und die Sicherheit zu kümmern. Ich muss eine Gesamtsicht einnehmen. Kommt dazu, dass die Armee unter dem Primat und der Verantwortung der Politik steht, also von Parlament, Gesamtbundesrat und mir.
Sie hätten auch «Ihrem» Mitte-Fraktionschef Philipp Matthias Bregy sagen können, dass er für die entscheidende Abstimmung im Parlament noch die eine oder andere Stimme für 2030 bringen solle. Der Entscheid für 2035 fiel schliesslich mit nur einer einzigen Stimme Unterschied, die Mitte war grossmehrheitlich dafür.
Wir haben eine Gewaltentrennung in diesem Land. Ich mische mich nicht ein in das Abstimmungsverhalten der Mitte-Fraktion.
Die Westschweizer Tageszeitung «La Liberté» hat geschrieben, dass Ihre Leute «unermüdlich» daran gearbeitet hätten, die Mitte-Mitglieder noch zu drehen.
In Bundesbern wird viel geredet und geschrieben, wenn der Tag lang ist.
Wir haben immer noch Krieg in Europa. Ist er der Schweiz näher gerückt?
Die Schweiz grenzt nicht ans Kriegsgebiet. Aber der Konflikt ist nahe. Von der ganzen Destabilisierung, der Desinformation und den Cyberattacken sind wir heute schon betroffen. Das ganze System ist volatiler geworden.
Als Sie 2018 in den Bundesrat gewählt wurden, blieb noch das VBS übrig, und Sie mussten es nehmen. Hätten Sie damals gedacht, dass das VBS einst eines der wichtigsten Departemente sein würde?
Ich habe damals nicht damit gerechnet, dass wir auf europäischem Boden nochmals einen Krieg erleben. Ich habe damals aber auch nicht damit gerechnet, dass wir die Armee für eine Pandemie teilmobilisieren müssen. Wir erleben gerade grosse Umwälzungen, mit denen noch vor wenigen Jahren wohl die wenigsten gerechnet haben.
SP und Grüne sagen, der Krieg in der Ukraine werde nicht bis an unsere Landesgrenzen getragen. Also brauchen wir auch nicht die Armee, die Sie nun planen. Was antworten Sie darauf?
Ich hoffe natürlich, dass die, die das heute sagen, recht behalten werden. Aber ich würde so eine Prognose nie wagen. Auch wir erwarten nicht, dass die Schweiz im nächsten halben Jahr direkt angegriffen wird. Aber wir müssen uns auf eine neue Palette von Bedrohungen einstellen, während die alten, konventionellen Bedrohungen nicht weniger geworden sind. Dass die Schweiz angegriffen wird, ist in den letzten zwei Jahren eher wahrscheinlich geworden.
Gegen weitreichende Waffen können wir uns und unsere kritische Infrastruktur auch nur bedingt schützen, wenn wir 2027 nicht ein zusätzliches System kaufen können. Macht Ihnen das Sorgen?
Jede Fähigkeitslücke bereitet mir Sorge. Die Armee versucht, die Beschaffungen entsprechend zu priorisieren.
Die Welt spielt verrückt. Und Sie pflügen Ihr Departement um. Es rumorte bei der Schaffung des neuen Staatssekretariats, beim Nachrichtendienst sind die Mitarbeiter unzufrieden. Wie viele Reorganisationen verträgt ein Departement in einer ohnehin schon angespannten Zeit?
Viele Umstrukturierungen wurden vor der Eskalation des Ukraine-Kriegs initiiert. Sie waren nötig, um das Departement auf die Zukunft auszurichten. Ich halte sie nach wie vor für richtig, aber für die Mitarbeitenden bedeuten sie in der Tat eine grosse Belastung. Sie leisten Hervorragendes.
Eine Grossbaustelle bleibt die Ruag. Was haben Sie mit ihr vor?
Der Entscheid, die Ruag zu entflechten und in einen internationalen Teil und in einen spezifischen Schweizteil aufzugliedern, wurde vor meiner Zeit getroffen. Ich halte ihn nach wie vor für richtig. Wie der jüngste Bericht der Finanzkontrolle gezeigt hat, ist noch nicht alles perfekt. Es gilt nun weiterhin, hier Ruhe hineinzubringen und Verbesserungen vorzunehmen.
Als die Ruag Anfang 2023 versucht hat, fast hundert Panzer über den deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall an die Ukraine zu liefern, hätten bei Ihnen doch alle Alarmglocken läuten müssen. Die Lieferung von Schweizer Waffen an eine Kriegspartei ist eine rote Linie.
Hätte ich als Departementschefin die Anfrage sofort abblocken müssen? Dann wären wir kritisiert worden, wir würden auf Kosten der Steuerzahler viel nachgefragtes Kriegsgerät verrosten lassen. Ich habe mich an den für solche Anfragen vorgesehenen Prozess gehalten. Die Ruag hat ein offizielles Gesuch gemacht beim Bundesrat, das schliesslich abgewiesen worden ist.
Der Verwaltungsratspräsident Nicolas Perrin hat im Nachgang zu diesem gescheiterten Panzerdeal die Ruag verlassen. Mit ihm haben Sie damals den Schwager Ihrer Beraterin Brigitte Hauser-Süess vorgeschlagen. Können Sie verstehen, dass der Eindruck entsteht, dass ihm diese Verbindung womöglich nicht geschadet hat?
Nicolas Perrin brachte sehr gute Qualifikationen mit. Als langjähriger Leiter von SBB Cargo kannte er das Umfeld im parastaatlichen Bereich, das Zusammenspiel mit der Bundesverwaltung. Er hatte Erfahrung bei der Compliance in einem staatseigenen Unternehmen. Bei der Gemeinde Brig-Glis, die ich früher präsidiert habe, kam es oft vor, dass sich Leute bewarben, die mit bereits angestellten Gemeindemitarbeitern verwandt waren. Ich hielt mich immer an die Regel: Es darf kein Vorteil sein, aber eben auch kein Nachteil.