Der Tod Alexei Nawalnys im Straflager ist ein schwerer Schlag für alle russischen Regimegegner. Sie fürchten um die anderen politischen Gefangenen. Der Arbeit vom Ausland aus fehlt die Glaubwürdigkeit.
Ilja Jaschin lässt sich auch im Straflager den Mund nicht verbieten. In einem bewegenden Text, den er diese Woche über seine sozialen Netzwerke verbreiten liess, hat der russische Oppositionspolitiker Abschied genommen von seinem politischen Weggefährten und Freund Alexei Nawalny.
Es bestehe für ihn kein Zweifel daran, dass Wladimir Putin Nawalny habe umbringen lassen, schrieb er. Für Putin machten Morde, Brutalität und Rache Herrschaft aus. Er halte wie ein Bandenführer die Menschen mit Angst in Schach, und wer sich nicht fürchte, werde eingesperrt und vernichtet – wie Nawalny, wie Boris Nemzow, dessen Todestag sich an diesem Dienstag zum neunten Mal jährt. Jaschin ist sich der Brisanz seiner Aussagen bewusst: Sein Leben sei in Putins Händen und damit in Gefahr.
Furcht vor der Strasse
Mit Nawalny ist für sehr viele von Russlands Regimegegnern – ob Politikerinnen, Aktivisten, Journalistinnen oder gewöhnliche Bürger – auch ein grosses Stück Hoffnung getötet worden. Politisch Einfluss auf das Geschehen in der russischen Politik hatten er und seine ins Exil gedrängten Organisationen, vor allem die Stiftung für die Bekämpfung der Korruption, nur noch indirekt. Ohnehin sprechen sie nur eine Minderheit im Land an. Mit Gleichgültigkeit, Häme und Hass begegnete die Mehrheit dem Tod Nawalnys. Die Lücke, die sein Tod reisst, ist dennoch riesig. Auch die Ankündigung Julia Nawalnajas, das Erbe ihres Mannes weiterzutragen, ändert daran wenig: Nawalnaja ist zwar ein politisches Symbol, aber ihre Rolle ist noch unklar, und sie agiert aus dem Ausland.
Das Gesicht einer vereinten Opposition war Nawalny nie gewesen. Er war mit seiner Furchtlosigkeit, Innovationskraft und dem mitreissenden Charisma der streitbare Angelpunkt einer Bewegung, an der sich andere oppositionelle Politiker rieben. Dass er sich durch die ihm im Strafvollzug bewusst auferlegten Qualen nicht brechen liess und sogar Humor bewahrte, rang auch seinen Gegnern im Oppositionslager höchsten Respekt ab.
Der vom Regime bewusst herbeigeführte Tod Nawalnys im Straflager dient auch der Demoralisierung. Nur taxieren die Behörden selbst das öffentliche, stille Trauern als halbkriminelle Handlung. Seit der Corona-Pandemie sind die Demonstrationsverbote nie aufgehoben worden. Jede Menschenansammlung wird als illegale Kundgebung angesehen und mit Polizeigewalt aufgelöst. Um jeden Preis will das Regime verhindern, dass das Ableben seines Intimfeinds zur Mobilisierung der Unzufriedenheit genutzt wird – erst recht wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl.
Das Potenzial dazu war sichtbar geworden, als zwei Politiker für ihre Präsidentschaftsbewerbung unerwartet viel Zuspruch erhielten: die bereits in den Anläufen gescheiterte Jekaterina Dunzowa und der altgediente Politiker Boris Nadeschdin, der mit den Warteschlangen vor seinen Wahlbüros einen Moment lang ins Rampenlicht rückte. Zur Wahl wurde er nicht zugelassen. Der Kreml will sich die Suppe selbst mit relativ harmlosen Oppositionellen nicht versalzen. Politiker, die gegen Putin Stellung beziehen und ernsthaft das bisherige Herrschaftssystem infrage stellen, haben kaum Luft zum Atmen.
Sorge um das Leben der politischen Gefangenen
Jaschin sitzt seit einigen Monaten seine Freiheitsstrafe von achteinhalb Jahren wegen «bewusster Verbreitung von Lügen über die russischen Streitkräfte aus Hass gegenüber dem Staat» ab. Seit dem Grossangriff auf die Ukraine werden Regimegegner mit diesem Vorwurf ausgeschaltet und ihre Anhänger eingeschüchtert. Der 40-Jährige ist seit zwanzig Jahren in der liberalen, demokratischen Bewegung in Russland aktiv. Bis zu seiner Festnahme im Sommer 2022 war er eine der markantesten Stimmen der russischen Opposition im Land.
Politiker seiner Art gibt es kaum noch. Entweder sind sie im Gefängnis oder im Exil. Dank Nawalnys Aufbauarbeit in Russlands Regionen waren dort vielversprechende politische Talente, nicht zuletzt auch zahlreiche junge Frauen, zu lokalen und regionalen Hoffnungsträgern geworden. Spätestens als nach Nawalnys Rückkehr 2021 von Kaliningrad bis Wladiwostok Tausende auf die Strassen gingen, wollte der Kreml Nawalnys «Stäbe» in der Provinz nicht länger dulden. Ihre Mitarbeiter wurden zu Extremisten erklärt und kriminalisiert. Manche von Nawalnys Vertretern sind zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden, andere sind im Exil.
Nach dem Tod Nawalnys ist die Befürchtung gross, Jaschin oder der unter anderem wegen Hochverrats zu 25 Jahren Straflager verurteilte Historiker und Journalist Wladimir Kara-Mursa könnten die Nächsten sein. Kara-Mursa leidet unter den Folgen zweier Vergiftungsversuche, die ebenfalls auf die Todesschwadron des Geheimdienstes FSB zurückgehen. Er befindet sich in prekärer physischer Verfassung in Einzelhaft in einem sibirischen Straflager. Aber auch er liess eine mutige Botschaft zum Tod Nawalnys veröffentlichen.
Glaubwürdigkeitsproblem im Exil
Nawalny, Jaschin und Kara-Mursa einte die Überzeugung, ihr Platz müsse in Russland sein. Nur so könnten sie ihre politische Glaubwürdigkeit bewahren und dem Land nach einem ersehnten Machtwechsel nützlich sein. Jaschin beschrieb das in seinem Schlusswort vor Gericht so: «Ich bin mir bewusst, dass ich, wenn ich mich in Freiheit wiederfinde, einer derjenigen sein werde, die diesen ganzen blutigen Saustall ausmisten müssen. Ich werde einer derjenigen sein, die auf den Ruinen des Putinismus ein neues, freies und glückliches Russland aufbauen werden.» Klar ist, dass sie aus dem Gefängnis nur symbolisch politisch wirken können.
Andere haben in den vergangenen Jahren ihre Oppositionstätigkeit aus dem Exil fortgesetzt. Putins erster Ministerpräsident Michail Kasjanow, der gefallene Erdölmagnat Michail Chodorkowski und der einstige Schachweltmeister Garri Kasparow sind die bekanntesten Regimegegner im Ausland. Ihr Makel aus der Perspektive des russischen Bürgers liegt auf der Hand: Sie leben ein von den Realitäten und ihren Nuancen in Russland abgetrenntes Leben. Für die Propaganda sind sie ein gefundenes Fressen, weil sie als vom Westen bezahlte Aufrührer verhöhnt werden können.
Etwas weniger einfach ist das beim Oppositionspolitiker Maxim Katz, der bis zum Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine in Moskau eine Art Politik-Inkubator für junge Lokalpolitiker geschaffen hatte. Er war bei jüngeren städtischen Schichten mit seinem Youtube-Kanal schon immer ein beliebter Politik-Erklärer gewesen – und ein scharfer und polemischer Gegner Nawalnys. Die beiden gingen sich vor allem in taktischen und strategischen Fragen gegenseitig an und mochten sich wohl auch sonst nicht wirklich.
Streit zwischen Emigranten und Zurückgebliebenen
Auch viele von Nawalnys Mitstreitern werden im Exil mit dem Vorwurf konfrontiert, nicht richtig einschätzen zu können, was im Land selbst los sei. Dasselbe gilt für die Professoren, Experten und Journalisten, die in den vergangenen zwei Jahren Russland verlassen mussten. Sie alle sind vor allem über Youtube und Telegram mit dem russischen Publikum in Kontakt. Chodorkowski etwa verfügt über eigene Medien. Immer wieder stehen sie und auch die russischen Exilmedien vor der Frage, an wen sie sich tatsächlich richten: an die oppositionell gesinnten Exilanten oder an die in Russland verbliebenen Regimegegner. Das wird auch zur Herausforderung für Julia Nawalnaja werden.
Wenige Ausnahmen in der Provinz
Noch gibt es auch die Partei Jabloko um Grigori Jawlinski, als einzige echte, offiziell erlaubte demokratisch-liberale Oppositionspartei. Nawalny, Jaschin und Katz hatten dort ihre politische Karriere gestartet, aber alle drei gerieten alsbald in Konflikt mit der Parteiführung, weil sie dieser zu radikal waren. Jabloko vereint in einigen russischen Provinzen traditionell die wenigen verbliebenen Oppositionellen, ist in lokalen Parlamenten vertreten und Anlaufstelle für Bürgeranliegen. Sie operiert ständig in der Grauzone zwischen Duldung, Illegalität und Machtlosigkeit, aber zeigt zuweilen, dass auf dieser Ebene Opposition noch möglich ist.
An den Rändern des politischen Spektrums, ganz links und ganz rechts, stechen immer wieder Politiker und Aktivisten heraus, die auf Konfrontation zum Kreml gehen und sich ein ganz anderes Russland vorstellen. Aber auch sie sind auf verlorenem Posten. Wer nicht ins Exil gegangen ist, muss in Russland mit Strafverfolgung rechnen – das gilt für den Ultranationalisten Igor Girkin, der 2014 mithalf, die Krim und den Donbass aufzuwiegeln, ebenso wie für den neomarxistischen Theoretiker Boris Kagarlizki.
Beide wurden jüngst zu mehrjährigen Lagerhaftstrafen verurteilt wegen ihrer Publikationen. Mit der kaltblütigen Ausschaltung Alexei Nawalnys hat Putin noch einmal klargemacht, dass echte politische Opposition in Russland lebensgefährlich ist.