Immer öfter gewinnen Spieler unter elf Jahren gegen Grossmeister. Der Trend lässt sich erklären – doch die Rekordjagd tut nicht allen Kindern gut.
Vor wenigen Tagen lieferte das eher unbedeutende Burgdorfer Stadthaus-Open Schlagzeilen in der Schachwelt: In der vierten Runde gelang dem achtjährigen Ashwath Kaushik aus Singapur ein sensationeller Sieg gegen den 37-jährigen Polen Jacek Stopa. Dabei überwand der Knirps nicht nur eine Differenz von 470 Elo-Punkten, sondern wurde mit acht Jahren, sechs Monaten und elf Tagen zum jüngsten Spieler, der je einen Schachgrossmeister bezwungen hat. Am Ende belegte er den 12. Rang unter 127 Teilnehmern.
Im Alter von vier Jahren hatte Ashwath mit dem königlichen Spiel begonnen, zwei Jahre später gewann er dreifaches Gold an den asiatischen U8-Meisterschaften. Seine Eltern, die indischer Herkunft sind, spielen selbst kein Schach, fördern jedoch mit Begeisterung ihren Sohn, der trotz seinen Talenten eine reguläre Schule besucht. Zwei Stunden täglich trainiere er unter der Woche, an Wochenenden sieben bis acht.
Ashwath Kaushik is the YOUNGEST-EVER player to beat a GM in classical chess 👏🤯 pic.twitter.com/2ejHYX2a5K
— Chess.com (@chesscom) February 18, 2024
Praggnanandhaa gelingt als Elfjähriger die Qualifikation für das WM-Kandidatenturnier
Dass ein Achtjähriger einen Grossmeister besiegt, war jahrzehntelang für unmöglich gehalten worden. Schon der Sieg der damals elfjährigen Judit Polgár gegen einen Grossmeister im Jahr 1987 schien ein Jahrhundertereignis. Doch in den letzten 10 bis 15 Jahren hat ein Dutzend Jungtalente mit Grossmeister-Siegen vor dem elften Altersjahr auf sich aufmerksam gemacht. So etwa der Inder Rameshbabu Praggnanandhaa, der sich unlängst für das diesjährige WM-Kandidatenturnier qualifiziert hat und der zehneinhalb Lenze zählte, als er sein erstes Grossmeisterskalp errang.
Der von seinen Eltern schon bei der Namenswahl für Grösseres vorgesehene Amerikaner Awonder Liang zählte gar nur 9 Jahre und 3 Monate, als er 2012 seinen ersten Grossmeister besiegte. Dieser Rekord hielt über zehn Jahre, war aber Anfang dieses Jahres vom Serben Leonid Ivanović mit 8 Jahren und 11 Monaten gebrochen worden. Nur wenige Wochen hat er sich seiner «Spitzenposition» erfreuen dürfen, und so ist es gut möglich, dass auch der Rekord aus Burgdorf bald Makulatur sein wird.
Eine solche Häufung an Spitzenleistungen ist kaum zufällig und tatsächlich durch mehrere Trends zu erklären, die sich in den letzten Jahren akzentuiert haben. Erstens gibt es immer mehr Grossmeister und auch immer mehr Gelegenheiten, einen Grossmeister zu besiegen. Das liegt daran, dass die an Ratingpunkte geknüpften Qualifikationsbedingungen für den Titel seit vielen Jahrzehnten unverändert sind. Weil, wie in vielen Sportarten, auch im Schach Wissen und Niveau der Spitze und der Masse konstant steigen, gibt es heute viel mehr Spieler, die die Bedingungen für den Titel erfüllen.
Da der Grossmeistertitel zudem auf Lebzeiten verliehen wird, gibt es auch viele Titelträger, deren Wertungszahl längst nicht mehr grossmeisterlich ist. Der Burgdorfer Gegner von Ashwath Kaushik ist denn auch mit einem Rating von 2351 Punkten schon weit entfernt von der 2500er-Marke, deren (einmalige) Überschreitung eine der Vorbedingungen für den Grossmeistertitel ist.
Eine Demokratisierungswelle erfasst den Schachsport
Der zweite Faktor lässt sich aus dem ersten ableiten. Früher war der Grossmeistertitel nicht nur prestigeträchtiger und rarer, sondern auch wertvoller. Selbst Spieler, die nicht mehr auf der Höhe waren, konnten mit regelmässigen Einladungen zu geschlossenen Turnieren rechnen, an denen sie aufgrund ihres Titels gern gesehen waren und zu denen Achtjährige kaum je zugelassen wurden. Doch mit der Titelinflation hat der Druck auf viele dritt- und viertklassige Grossmeister zugenommen, in offenen Turnieren ihr Glück zu suchen, so dass sich viel häufiger Konstellationen ergeben, in denen eine Sensation möglich wird.
Auch auf der Gegenseite tut sich einiges. Nicht nur gibt es immer mehr «schlagbare» Grossmeister, tatsächlich gibt es auch immer mehr Kinder, die das Schachspiel aussergewöhnlich gut beherrschen. Das hängt zum einen mit weltweiten Bemühungen um Förderung sowie einem noch immer recht jungen Schach-Boom vor allem in Asien zusammen.
Zum anderen hat eine Demokratisierungswelle den Schachsport erfasst. Waren Talente einst auf das Glück reicher und engagierter Eltern angewiesen oder auf die Geburt in einem Land mit umfassender staatlicher Talentförderung, so sind erstklassige Lehrmaterialien sowie Zugang zu Spitzentrainern dank der Omnipräsenz des Internets heutzutage fast überall und erst noch ziemlich kostengünstig zu haben. Viele Spielgeheimnisse, die noch vor zwei, drei Jahrzehnten nur intuitiv bekannt waren und höchstens mündlich weitergegeben wurden, sind heute Allgemeingut.
Da also immer mehr talentierte junge Spieler auf immer mehr relativ schwache Grossmeister treffen, purzeln die Rekorde immer schneller. Allerdings haben sie auch immer weniger Bedeutung. Und ob die Rekordjagd der Entwicklung der Kinder guttut, ist ohnehin fraglich – selbst in einer rein intellektuellen Disziplin.
Ende 2016 hat etwa ein Dreijähriger im russischen Fernsehen an einer Talentshow gegen den ehemaligen Weltmeister Anatoli Karpow eine Blitzpartie gespielt. Heroisch lehnte das Wunderkind zwei grosszügige Remis-Offerten der Schachlegende ab und verlor nach nur 17 Zügen durch Zeitüberschreitung. Inzwischen ist der Knabe elf Jahre alt. Mit einem Rating von 1316 Punkten ist er die Nummer 131 363 der Weltrangliste. Sollte er jemals in seinem Leben doch noch einen Grossmeister bezwingen – es wäre ein kleines Wunder.