Wie hoch darf ein Spitzenlohn sein, wann wird er exzessiv? Das ist auch an den diesjährigen Generalversammlungen ein Thema. Die St. Galler Wirtschaftsprofessorin Antoinette Weibel argumentiert, dass das höchste Gehalt nicht zwingend die besten Manager anzieht.
Frau Prof. Weibel, welche Trends sehen Sie bei den Cheflöhnen?
Die Lohnvorstellung auf Stufe CEO (Chief Executive Officer) ist von der Idee geprägt, die Spitzenkräfte nicht wie Bürokraten zu bezahlen. Stattdessen will man sie mit Erfolgsprämien dazu bringen, wie Eigentümer zu agieren, um den Unternehmenswert nachhaltig zu steigern.
Die grössere Transparenz bei den Cheflöhnen hat dabei einen Wettbewerb ausgelöst, bei dem sich alle vergleichen. Wer unter dem Durchschnitt ist, versucht höher zu kommen. Das führt zu einer Spirale nach oben.
Schauen wir die grossen Zahlen an: Der Tesla-Gründer Elon Musk hatte 2017 ein Gehaltspaket ausgehandelt, das heute mehr als 50 Milliarden Dollar wert ist. Es wurde im Januar von einem amerikanischen Gericht als exzessiv eingestuft. Wie beurteilen Sie den Entscheid?
Es geht hier nicht um ihn als Unternehmer. Er besitzt ja bereits ein grosses Aktienpaket von Tesla. Hier geht es um seinen Lohn. Elon Musk wurde vorgeworfen, dass er als Manager seine Machtposition gegenüber dem damaligen Verwaltungsrat ausgenutzt hat, um ein unfaires Paket auszuhandeln. Machtmissbrauch ist immer schlecht. Ich hänge der Idee einer Meritokratie an, in der es einen Zusammenhang zwischen Lohn und Leistung gibt. Dieser Zusammenhang ist bei Musk nicht mehr gegeben. Insofern: Ja, das Lohnpaket ist exzessiv.
In der Schweiz geht es um andere Summen. Der Novartis-Chef Vas Narasimhan hat 2023 immerhin 16,2 Millionen Franken verdient. Ist das viel, fair oder zu viel?
Der Liberalismus fusst auf zwei Grundsäulen: der Meritokratie, in der der Verdienst von der Leistung abhängt, und der Freiheit. Diese ist im klassischen Liberalismus aber nicht grenzenlos, sondern geht mit Verantwortung einher. Als Anhängerin der Meritokratie möchte ich, dass der Verdienst – auch beim Novartis-CEO – zu einem gewissen Grad die Leistung abbildet.
Wir haben bei den CEO-Löhnen mittlerweile ein Niveau erreicht, bei dem auch bürgerliche Kreise sagen, dass die Relation nicht mehr stimmt. Natürlich soll ein CEO deutlich mehr verdienen als ein einfacher Mitarbeiter. Wenn es aber mehr als das 300-Fache ist, ist das kein meritokratisches Verhältnis mehr. Wie viel mehr Leistung bringt der Novartis-Chef im Vergleich zu einem Forscher, der ein wichtiges Medikament entwickelt?
Die Leistung scheint aber bei Novartis gestimmt zu haben. Im Gehalt des CEO spiegelt sich das gute Geschäftsjahr. Schliesslich lag das Fixgehalt von Vas Narasimhan «lediglich» bei 1,82 Millionen Franken, der Grossteil der Vergütung war damit erfolgsabhängig.
Einen Fliessbandarbeiter kann man mit Akkordlöhnen zu mehr Leistung anspornen. CEO-Löhne sind hingegen nicht akkordfähig. Die Arbeit von Spitzenmanagern ist ein komplexer Job. Ihnen einfach eine finanzielle Karotte vor die Nase zu setzen, funktioniert nicht, schon gar nicht mit komplizierten Anreizsystemen und Aktienoptionen. Je komplizierter das System ist, desto besser kann man «optimieren» und statt einer Gesamtschau die «karottenwirksamen» Treiber bearbeiten.
Zudem: Zwischen der Gehaltsform eines CEO und dem langfristigen Erfolg des Unternehmens gibt es wissenschaftlich keinen stabilen Zusammenhang. Bei einem Pharmaunternehmen wie Novartis müsste man den Erfolg daran messen, wie gut die Produkte-Pipeline ist, wie innovativ die Forschung ist und wie motiviert die Mitarbeiter sind, um die Firma nach oben zu bringen. Der Börsenkurs ist jedenfalls kein guter Indikator für den Erfolg. Läuft es in der Wirtschaft gut, steigen die Börsenkurse. Das ist zu einem gewissen Grad unabhängig von der Leistung des CEO.
Kann man die CEO mit Fussballstars vergleichen? Sie sind die Superstars der Wirtschaft – und werden wie die Spitzenfussballer entsprechend gut bezahlt.
Ein Fussballspiel ist im Vergleich mit den Leistungen eines Unternehmens primitiv. Elf Spieler sind nicht zu vergleichen mit 10 000 Mitarbeitenden, die gemeinsam den Erfolg ausmachen. Entscheidend ist aber auch, dass es keinen transparenten «Transfer-Markt» für CEO gibt. Zudem sind die entscheidenden CEO-Merkmale nicht gut beobachtbar – bei Fussballspielern kann hingegen die ganze Welt zuschauen. Deswegen hinkt der Vergleich.
Ist die freie Lohnbildung nicht das kleinste Übel?
Die gängigen Vergütungssysteme sind mit Blick auf den langfristigen Unternehmenswert nicht nur wirkungslos. Sie schaffen sogar Fehlanreize, denn die Führungsriege richtet ihr Handeln auf die messbaren Ziele aus. Was nicht klar messbar und an Indikatoren angebunden ist, wird leicht vernachlässigt.
Zudem: Wir wissen aus Studien, dass die Schweiz keine Neidgesellschaft ist. Trotzdem entbrennen immer erregte Debatten über die wenig faire Lohnverteilung. Mir scheint also, dass wir hier tiefer gehen müssen. Die CEO-Löhne sind Ausdruck einer zunehmenden «Egoisierung» der Gesellschaft und werden vermutlich auch zu Recht als Folge von mangelhaftem Verantwortungsgefühl einer kleinen Elite wahrgenommen. Mit Compliance allein können wir das Problem nicht lösen. Was wir brauchen, sind Führungskräfte und Verwaltungsräte, die massvoll und verantwortlich handeln.
Grundsätzlich liegt es im Ermessen des Unternehmens, die Löhne festzulegen. Sind Diskussionen um hohe Managergehälter daher nicht oft einfach billiger Populismus?
Die Macht der Aktionäre als Eigentümer ist zersplittert. Prinzipiell könnten Stimmrechtsvertreter die Lücke füllen. In der Realität funktioniert das aber mehr schlecht als recht. Die Stiftung Ethos aus der Schweiz ist zwar langfristig ausgerichtet. Doch die amerikanischen Stimmrechtsvertreter ISS und Glass Lewis, die die wirkliche Macht haben, kennen nur die amerikanische Sichtweise, und die fokussiert auf den kurzfristigen Erfolg.
Gibt es aus einer liberalen Perspektive einen exzessiven Lohn?
Aus klassisch liberaler Perspektive liegt die Verantwortung für die Lohnbildung bei den Unternehmen. Man würde die Märkte gern spielen lassen bzw. die Bedingungen dafür schaffen, dass sie funktionieren können. Bei den CEO gibt es jedoch keine Möglichkeit, einen funktionierenden Markt zu schaffen. Ein minimalinvasiver Eingriff wäre darum, auf CEO-Ebene Fixlöhne zu zahlen, die mit sehr langfristig ausgelegten Erfolgsprämien kombiniert werden.
Wechseln wir zur Finanzbranche. Ende März publiziert die UBS ihren Vergütungsbericht. Wie erfolgreich die Integration der Credit Suisse verläuft und wie erfolgreich die neue UBS wirtschaftlich agiert, ist nicht nur für die Bank selbst entscheidend, sondern für den ganzen Finanzplatz Schweiz. Was ist ein angemessenes Gehalt für das Management?
Da sehe ich gar nicht ein, wieso man die Vergütung allein dem Unternehmen überlassen sollte. Schliesslich tragen die Bürger und Steuerzahler das letzte Risiko. Klar ist, dass die Führung der UBS kein einfacher Job ist. Natürlich soll die Führungsriege gut verdienen. Allerdings kann man derzeit nicht erfassen, wie gut sie diesen Job wirklich machen. Das sieht man erst in einigen Jahren.
Gerade bei den Banken haben wir es nicht geschafft, die Lohnanreize richtig zu setzen. Übermässige Risiken einzugehen, wird immer noch belohnt. Dabei sind nicht nur die Aktionäre die Verlierer, sondern auch die Kunden, wie bei der Credit Suisse bei den Verlusten mit dem Hedge-Fund Archegos. Die Unternehmensjuristen sprechen dann verharmlosend davon, dass die Bank etwas mehr Rechtsfälle habe . . .
Oft wird argumentiert, dass die Cheflöhne so hoch sind, weil die Unternehmen international um die Top-Talente konkurrieren.
Ja, die hohen Löhne werden mit der Notwendigkeit begründet, die besten Talente anziehen zu können. Allerdings hat sogar der ehemalige Bankier und Wirtschaftsprofessor Kurt Schiltknecht gesagt, wenn ein CEO tot umfalle, gehe es eine halbe Minute, dann habe man wieder einen anderen.
Wissenschaftlich lässt sich nicht nachweisen, dass der höchste Lohn das grösste Talent anzieht, es lässt sich auch nicht widerlegen. Vielleicht sollten Unternehmen im eigenen Interesse nach Chefs suchen, die nicht nur bei einem internationalen Top-Lohn kommen. Das höchste Gehalt zieht nicht zwingend den besten Manager an.
Albert Bourla, CEO des Novartis-Konkurrenten Pfizer, hat 2022 rund 33 Millionen Dollar verdient. Wäre das in der Schweiz akzeptabel?
In den USA sind sehr hohe Löhne besser akzeptiert, weil dort noch immer viele Menschen an den amerikanischen Traum glauben, dass es jeder mit Anstrengung nach oben schaffen kann.
Sind hohe Managergehälter ein gesellschaftliches Problem? Antworten die Menschen in der direkten Demokratie auf hohe Managergehälter beispielsweise mit der Zustimmung zu Mindestlöhnen oder zur dreizehnten AHV-Rente?
Fallen Leistung und Lohn sehr weit oder zu weit auseinander, stört das das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen. Es entstehen soziale Kosten.
Wenn man beispielsweise wie der frühere Novartis-Chef Daniel Vasella unmittelbar vor wichtigen Abstimmungen (Anmerkung der Redaktion: Minder-Initiative, 1-zu-12-Initiative, nationaler Mindestlohn 2013) eine unverschämte Millionen-Abfindung einstreichen will, handelt man unverantwortlich.
Ich würde ungern das verlieren, was ich in der Schweiz so schätze, nämlich eine Demokratie mit Verantwortung.
Was sollen die Unternehmen tun?
Ich wünsche mir, dass die Unternehmen Vergütungsmodelle etablieren, die den Shareholder Value langfristig abbilden. Die börsenkotierten Unternehmen sind allerdings in ihrem System gefangen. Ich hoffe, dass langfristig interessierte Investoren wie etwa der norwegische Staatsfonds ihren Einfluss geltend machen. Auf die amerikanischen Investoren kann man nicht setzen.
Prof. Dr. Antoinette Weibel
Die Luzernerin ist Ordinaria für Personalmanagement an der Universität St. Gallen und Direktorin am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitswelten der Universität St. Gallen (FAA-HSG). Die Forschungsschwerpunkte von Weibel sind Vertrauensmanagement in Unternehmen, Corporate Trust, Stakeholdervertrauen, vertrauensbasierte Führung und Motivationsmanagement. Gemeinsam mit Otti Vogt, Gründer von «good organisations» und vormals Chief Operating Officer der Finanzgruppe ING, hat sie das «Forschungslabor Gute Organisation» gegründet.