Der 25-jährige Fotograf riskiert sein Leben, um den Krieg zu dokumentieren. Trotz der riesigen Reichweite hat der Palästinenser das Gefühl, dass seine Arbeit nicht viel bewirkt, wie er im Gespräch sagt.
Der Mann ist zurzeit der vielleicht meistgefragte Gesprächspartner aus Gaza, doch er mag eigentlich nicht mehr reden. «Wenn ich länger spreche, habe ich das Gefühl, dass mich etwas erwürgt», sagt Motaz Azaiza und zeigt auf seine Kehle. Sein leerer Blick verrät, wie sehr es ihn quält, von den 107 Tagen zu erzählen, die er seit Kriegsbeginn in Gaza erlebte.
Der 25-Jährige, der den Küstenstreifen Ende Januar verlassen konnte und sich seither im katarischen Doha aufhält, fühlt sich aber verpflichtet zu reden. Vom Tod und von der Zerstörung, die er mit seiner Kamera und seinem Telefon dokumentiert hat. Von den Bildern der Kinder, die neben den Leichensäcken ihrer getöteten Eltern kauern. Davon, wie er einmal stolperte und beim Blick auf den Boden realisierte, dass dort in den Trümmern der leblose Körper seines Nachbarn lag.
18,5 Millionen Menschen folgen Motaz Azaiza auf Instagram, mehr als dem amerikanischen Präsidenten. Junge Menschen halten an Demonstrationen neben Palästina-Flaggen Bilder von Azaiza in die Höhe. Er ist ein Held für viele, die den Massenmedien vorwerfen, das Leid der Palästinenser zu wenig abzubilden.
Eine Kindheit voller Kriege
Zurzeit lebt Azaiza in einem Hotelzimmer in der Metropole Doha. Die Glitzerwelt draussen ist ein starker Kontrast zu seinem bisherigen Leben: Aufgewachsen ist er in Deir al-Balah in der Mitte des Gazastreifens. Wie für fast alle der 2,3 Millionen Einwohner beschränkte sich seine Welt auf eine Fläche, die etwas grösser ist als die der Stadt München. Die Grenzen sind dicht, die Übergänge werden von Israel und im Süden von Ägypten kontrolliert. Ausreisen können nur wenige Privilegierte.
Frieden erlebte Azaiza nie. Er zählt im Videointerview mit ruhiger Stimme auf, woran er sich erinnert. 2005, er war sechs, sah er israelische Panzer in seiner Strasse. Als er acht Jahre alt wurde, begann der blutige Kampf um die Macht im Gazastreifen zwischen den Palästinenserfraktionen Hamas und Fatah. Danach wieder Konflikte zwischen Israel und der Hamas: «Krieg 2008, Krieg 2012, Krieg 2014», sagt er monoton.
2018 eskalierten Demonstrationen an der Grenze zu Israel. Er war dort für den Palästinensischen Roten Halbmond im Einsatz, als ein israelischer Scharfschütze seinen Oberschenkel traf. Schon damals als 19-Jähriger dokumentierte er das auf Instagram. Sein Bein heilte, die Gewalt ging weiter: «Es gab viele kleinere Aggressionen, dann Krieg 2021. Und jetzt Krieg 2023.»
Doch Gaza war trotz allem Azaizas Zuhause, in dem er schöne Momente im Alltag festhielt: Porträtbilder von jungen und alten Menschen, manchmal einen Sonnenuntergang. Er studierte Englisch, begann für internationale Medien zu arbeiten, später erhielt er eine Stelle als Foto- und Videoproduzent bei einer amerikanischen Organisation, die Spenden für das Uno-Hilfswerk für die Palästina-Flüchtlinge sammelt.
Azaiza verliert 15 Familienmitglieder in den ersten Kriegstagen
Das letzte Bild, das er auf Instagram vor dem Krieg veröffentlichte, war eine Drohnenaufnahme von der Stadt Gaza. Das war am 6. Oktober. Am Tag danach metzelte die Hamas bei ihrem Angriff 1200 Menschen in Israel nieder und verschleppte über 200 Personen als Geiseln in den Gazastreifen.
Azaiza teilte an diesem Morgen mit seinen damals 25 000 Followern Videos von Raketen der Hamas, die hoch im Himmel Richtung Israel fliegen. Es waren sehr viel mehr, als er bei früheren Angriffen jemals gesehen hatte. «Ich wusste sofort, dass es hart werden würde für uns. Selbst wenn sie nicht so viele Raketen abschiessen, tut uns Israel schreckliche Dinge an. Was also, wenn ihnen so viel Schaden zugefügt wird?» Azaiza sagt, er habe sich vor allem Sorgen um sich selbst gemacht. «Ich wusste, dass mir niemand helfen wird, wenn mein Haus bombardiert wird.»
Noch am gleichen Tag begann der Gegenschlag: Azaiza filmte die ersten Luftangriffe. Er packte seine Kamera und hastete zu den Orten, von denen die meisten wegrannten. «Ich fürchtete mich davor, zu sterben, aber ich trug auch das Gefühl in mir, dass ich überleben werde.» Er dokumentierte das Leid der Zivilisten und auch sein eigenes. In einem Video am 12. Oktober schaut er verzweifelt in die Kamera, filmt Blutspuren am Boden – 15 Angehörige seiner Familie wurden an diesem Tag Opfer von israelischen Luftangriffen, darunter seine Tante und Cousins.
Am 14. Oktober veröffentlichte er ein Video von sich auf dem Beifahrersitz einer Ambulanz mit einem toten Kleinkind im Arm. Er schrieb dazu, Menschen hätten ihm das Baby durchs Fenster gestreckt.
So ging es weiter, 107 Tage lang.
Mit seinen auf Englisch kommentierten Fotos und Videos, die ungefiltert die Brutalität des Krieges und die zunehmende Verzweiflung der Zivilbevölkerung zeigten, erreichte er bereits nach drei Wochen 10 Millionen Menschen.
Azaiza kritisiert mit seinen Bildern und Videos die Kriegsführung Israels und stösst damit bei seinem tendenziell jungen Publikum auf offene Ohren. Im Gegensatz zu anderen Stimmen auf Social Media – auf beiden Seiten des Krieges – tut er dies nicht mit hasserfüllten Botschaften, sondern in einem meist relativ nüchternen Ton.
Er und andere lokale Reporter, die unter Beschuss und prekären Bedingungen arbeiten, können aber nicht das ganze Bild des Krieges zeigen: Sie wissen, dass die Hamas auf Kritik oft mit Schikane und Gewalt reagiert. In der Vergangenheit seien unliebsame Journalisten verhaftet worden, schrieb etwa Amnesty International, festgenommene Demonstranten berichteten von Misshandlungen. So sind die Rolle der Hamas, die sich in zivilen Einrichtungen verschanzt, und der wachsende Missmut, den Menschen aus Gaza in privaten Gesprächen ansprechen, kaum je Thema in der Berichterstattung vor Ort.
Er träumte einst davon, ein bekannter Reisefotograf zu werden
Angefangen zu fotografieren hatte Azaiza viele Jahre zuvor. Als Teenager experimentierte er mit der Kamera seines Cousins. «Ich mochte die Langeweile nie, man muss in seinem Leben etwas machen.» Er sagt, er habe keinen Plan und keine Perspektiven in seinem Leben gehabt, doch er habe davon geträumt, eines Tages ein bekannter Reisefotograf zu werden. Dieser Traum erscheint ihm zurzeit belanglos.
Stattdessen wurde er zu einem Chronisten des Kriegs. Er wolle der Welt einfach zeigen, was in Gaza passiere, sagt Azaiza, egal ob es den Followern passe oder nicht. Eine grosse Mehrheit dankt ihm in den Kommentaren für seine Arbeit, doch er wird auch kritisiert. Als er gefilmt habe, wie Menschenmassen der Aufforderung des israelischen Militärs gefolgt und vom Norden Gazas in den Süden geflüchtet seien, habe er wütende Nachrichten von mehrheitlich arabischen Nutzern erhalten, wieso er das Leid der Bevölkerung zeige, anstatt wie widerstandsfähig diese sei. «Ich bin jemand, der sich um das Leben der Menschen sorgt und weniger darum, wie stark wir wirken», sagt er.
Auch für ein Video, in dem ein Mann seinen Unmut über die Hamas äusserte, kritisierten ihn manche Nutzer. Andere Kommentatoren auf Instagram schreiben hingegen, er verschleiere die Schuld der Hamas am Krieg. Die Islamistengruppe ihrerseits habe ihn einmal zu Beginn der Bodenoffensiven angerufen und verlangt, dass er einen Beitrag lösche, in dem er geschrieben hatte, dass israelische Panzer bis ins Zentrum von Gaza-Stadt vorgedrungen sind.
Es ist die Logik der Lagerbildung im Krieg: Jede Kritik an den eigenen Reihen wird nicht gern gesehen, weil diese von den Taten der anderen Seite ablenkt und der Propaganda des Gegners nützen kann. «Ich unterstütze keine politische Gruppe, bin weder Hamas noch Fatah. Ich bin einfach Palästinenser», sagt Azaiza.
Die lokalen Reporter leben gefährlich
Die Welt erfährt von der humanitären Krise und dem Schicksal von Getöteten – laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium in Gaza mittlerweile 30 000 – vor allem durch Hilfsorganisationen und einheimische Reporter. Manche arbeiten für grosse Verlage oder arabische Medien, andere wie Motaz Azaiza berichten direkt auf Social Media.
Er und seine Kollegen sind in grosser Gefahr. Das Komitee zum Schutz von Journalisten schreibt, in den ersten drei Monaten des Krieges seien mehr Medienschaffende getötet worden als jemals in einem einzelnen Land während eines ganzen Jahres. Zurzeit zählt das Komitee über 80 Getötete in Gaza, unter ihnen mehrere Freunde von Azaiza. Das israelische Militär bestreitet Vorwürfe, es greife Journalisten gezielt an. Zugang, um unabhängig im Gazastreifen zu arbeiten, verwehren Israel und Ägypten internationalen Reportern.
«Es hat sich nichts verändert»
Bevor sich Azaiza entschied, den Gazastreifen zu verlassen, habe er Drohanrufe von unterdrückten Nummern erhalten. Die Bomben und Panzer seien immer näher zu seinem Zuhause vorgerückt. «Ich wollte nicht warten, bis jemand zu mir kommt, ich mich nackt ausziehen muss und mich nicht wehren kann, weil sie mich sonst erschiessen», sagt er und spielt auf die Fotos der entkleideten palästinensischen Gefangenen an, die von einigen israelischen Soldaten in sozialen Netzwerken verbreitet wurden.
Er beantragte, zusammen mit seinen Eltern und den zwei kleineren Brüdern ausreisen zu dürfen. Der Prozess ist für Menschen ohne zweiten Pass kompliziert, doch schliesslich stimmten die israelischen Behörden zu. «Sollte ich glücklich sein?», schreibt er am 23. Januar in einem Video an Bord eines katarischen Militärflugzeuges – Schuldgefühle plagen ihn, weil er ausreisen konnte, während fast alle anderen in Gaza ausharren müssen.
In Doha wollen ihn nun alle sprechen, hochrangige Politiker wie der Palästinenserpräsident Abbas, Diplomaten, Medien. Er merke, dass ihn manche für den eigenen Vorteil treffen, doch ihm sei vor allem wichtig, dass er mehr Menschen das Leid seines Volkes näherbringen könne. Im März wäre Azaiza an ein Filmfestival in Genf eingeladen. Er würde gerne die Schweiz sehen und die Schokolade essen. Doch in Doha ein Visum zu beantragen, sei für ihn als evakuierten Palästinenser sehr kompliziert.
Trotz seiner Reichweite hat Azaiza nicht das Gefühl, viel erreicht zu haben: «Es hat sich nichts verändert», sagt er, «der Genozid in Gaza geht weiter» – wie viele Menschen, die sich für die Palästinenser einsetzen, bezeichnet er den Krieg als Völkermord, was Israel vehement zurückweist.
Ständig erreichen Azaiza neue Nachrichten über getötete Freunde. Er sagt, ihm werde psychologische Hilfe angeboten, doch es sei nicht die richtige Zeit dafür. Er müsse weitermachen, bis es einen Waffenstillstand gebe. Sein Volk wolle in Frieden und Freiheit leben.
Mitarbeit: Dario Veréb, Bildredaktion.