Der schwächste Junge wird in einen Brunnen hinuntergelassen, weil dort ein Messer liegt. Danach steckt das Messer dem Kind tödlich tief in der Brust. Auf der Klinge der Spruch der Waffen-SS: «Meine Ehre heisst Treue.» Ein Unglück mit ortsüblichem Beiwerk?
Wo die Natur ganz für sich ist, dort ist es schön. «Das heilige Trommeln eines Spechts», «der Duft von Hölzern und Wildblumen», «der Wörthersee, meeresgross zu deiner Rechten». Aber die Natur ist nicht allein, denn wir sind in einem österreichischen Anti-Heimatroman. Hier stört der Mensch. So ist es Tradition in einem Genre, um das es lange genug still war, um wieder einmal ordentlich auf die Pauke zu hauen.
Julia Jost stammt aus dem Fremdenverkehrsidyll Kärnten. Sie feiert als knapp 42-Jährige ihr Romandebüt mit einem schrill-bunten Sittenbild aus noch nicht verlorener Unschuld und alten Nazis. Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek ist dem Erstling mit lobenden Worten über seine «heitere Bösartigkeit» schon beigesprungen. Was kann da noch schiefgehen?
Vielleicht nicht viel mehr als in der Geschichte des Romans «Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht» ohnehin schiefgeht. Franzi, das gemobbte und schwächste Kind des Grundschuljahrgangs, wird in einen Brunnen hinuntergelassen, weil dort ein verlorenes Messer liegt. Er taucht nicht mehr lebend auf. Das Messer steckt ihm tödlich tief in der Brust. Auf der Klinge ist der Spruch der Waffen-SS eingraviert: «Meine Ehre heisst Treue.» Ist das Unglück eine Metapher oder ein Vorfall mit ortsüblichem Beiwerk? Vielleicht Letzteres.
Gerahmte Ariernachweise
In den achtziger und neunziger Jahren des Romans leben vom Populisten Jörg Haider beflügelte Nostalgien auf. Wenn der FPÖ-Führer damals sagte, dass unter Hitler nicht alles schlecht gewesen sei, dann versammelten sich manche Kärntner dankbar vor ihren gerahmten Ariernachweisen und stimmten Lieder über die Verteidigung der deutschen Heimat an. So weiss es auch Julia Josts Ich-Erzählerin zu berichten, die biografisch manches mit der Schriftstellerin teilt.
Die Erzählerin ist elf, als die Eltern ihren Gasthof verkaufen, um zu übersiedeln. Das Mädchen liegt unter einem Umzugs-LKW und sieht das Kisten schleppende Personal, das auch das Personal des Romans ist, vom Knie abwärts. Literarisch ist diese Perspektive ein feiner Trick. Er vergrössert das Unsichtbare ins Monströse, und genau das will Julia Jost. Ihre Figuren sind Prototypen, die auch deshalb so gut funktionieren, weil sie echte Typen sind.
Sehr intensiv und so detailnah, dass man dahinter wesentlich selbsterlebte Elemente vermutet, wird eine Familiengeschichte erzählt. Die Grosseltern des Kindes haben als Gasthofbesitzer dem Tourismus ein bescheidenes Leben abgerungen, den Eltern ging es mit ihrem von schönster Natur umwachsenen Gratschbacher Hof dann schon besser. Irgendwann hat der Vater einen Handel mit Lastkraftwagen aufgezogen. Fünfzig Stück davon kann er in die bosnischen Gebiete des Jugoslawienkriegs verkaufen. Die Familie ist plötzlich sinnlos reich.
Während die Mutter immer neue Möbel anschafft, schafft es der Vater oft nur noch betrunken nach Hause. Hotspot kollektiver Individuation: das Dorfwirtshaus. Hier ist jeder, wie er eben ist. Alte Nazis ziehen die jungen in ihren Bann. Die unfromme Marlene mit den roten Lackschuhen zieht die Männer ins Bett. Die Mesnersleute heissen Wutzegaunig, der Dorfkommunist heisst Fockenhocker und der politisch engagierte und kleinwüchsige Uhrmacher Beuschelwieser. Er begrüsst seine Freunde gern mit dem Satz: «Alles in däätscher Hand?»
Poetische Rückeroberung feindlichen Terrains
In Julia Josts mit grosser Lust an der Sprache geschriebenem Karawanken-Epos ist Kärnten ein Nazi-Wunderland, über das sich nur wundert, wer die Implikationen des Genres Anti-Heimatroman nicht kennt: Das Übertriebene ist der Treibriemen einer speziellen Aufklärung. Verstecktes und in Österreich lange unter den Teppich der Geschichte Gekehrtes sollen sichtbar werden.
So weit, so bewährt. Aber in Josts Geschichte kommt noch etwas dazu: die zarte Erzählung eines Mädchens, das anders ist, als es die Hemdsärmeligkeit des Landstrichs gebrauchen kann. Das Mädchen küsst lieber die aus Bosnien stammende Luca. Alles, was zwischen den beiden geschieht, ist die poetische Rückeroberung eines feindlichen Terrains. Jener Landschaft, die bis in die Grashalmspitzen voll «Hinterlist und Bosheit» steckt.
Luca hat ein Spiel ersonnen, das «Entdecken» heisst. Man schaut einander an und darf dabei nicht lockerlassen. Das ist irritierend schön und entlarvend zugleich. Diese Art des reinen Schauens ist auch das Formprinzip von Julia Josts Roman. Es ist erstaunlich, was er alles sieht. Käme er allerdings in seinem Beschreibungsfuror nicht ganz so episodisch daher und würde alles auch noch eine etwas romanhaftere Geschichte ergeben, wäre er eine echte Entdeckung.
Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht. Roman. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. Fr. 35.90.