Ein zweitägiger Warnstreik legt seit Donnerstag den öffentlichen Nahverkehr in vielen deutschen Bundesländern lahm, bei der Bahn drohen neue Streiks. Die Streikwelle wirft auch rechtliche Fragen auf, wie der Arbeitsrechtler Richard Giesen im Interview erklärt.
Herr Giesen, Deutschland wird durch anhaltende Arbeitskämpfe im Schienen-, Luft-, und Nahverkehr erschüttert. Die Lokführergewerkschaft GDL hat mehrere Streiks durchgeführt, noch bevor sie richtig zu verhandeln begonnen hat. Woher kommt diese Radikalisierung?
Es spielen mehrere Faktoren mit. Erstens ist die GDL eine Minderheitsgewerkschaft, die gegen eine Mehrheitsgewerkschaft kämpft. Sie hat zwei Feinde: zum einen das Management der Deutschen Bahn, zum andern die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Die EVG hat wohl etwa 180 000 Mitglieder, die GDL 30 000 bis 40 000. Die GDL kämpft einen doppelten existenziellen Kampf um den eigenen Bestand und gegen diese Belegschaftsmehrheiten. Ihr Kalkül ist dabei die Radikalisierung. Man bemüht sich nicht mehr darum, Mehrheiten zu gewinnen, sondern versucht kampffähige Minderheiten zu mobilisieren, die sich in einer Fundamentalopposition auch innerhalb der Belegschaft sehen.
Und die weiteren Faktoren?
Früher waren die Lokomotivführer Beamte. Das ist im Rahmen der Bahn-Privatisierung in den 1990er Jahren aufgegeben worden. Und früher vertraten die Gerichte das Prinzip «ein Betrieb, ein Tarif». Das bedeutet, dass die GDL an einem Tisch mit den jeweiligen Mehrheitsgewerkschaften gesessen und «mittarifiert» hat. Erst ab 2003 hat es ihr die Rechtsprechung erlaubt, eigene Tarifverträge abzuschliessen und dafür auch eigene Arbeitskämpfe zu führen. Das hat man später mit dem Tarifeinheitsgesetz von 2015 wieder einzufangen versucht. Die Erwartung war, dass eine Minderheitsgewerkschaft nicht um einen Tarifvertrag kämpfen wird, der später gar nicht gültig wird – weil laut dem Gesetz der Vertrag der Gewerkschaft gilt, die in einem Betrieb die Mehrheit hat.
Experte für Arbeitsrecht
Richard Giesen hat seit 2009 den Lehrstuhl für Sozialrecht, Arbeitsrecht und bürgerliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Zugleich ist er Direktor des dortigen Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften in Bonn und Freiburg hat der 1964 geborene Jurist zunächst als Rechtsanwalt gearbeitet. 2001 habilitierte er, 2002 wurde er zum Professor an der Technischen Universität Darmstadt ernannt. Von 2003 bis 2009 unterrichtete er an der Universität Giessen.
Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt.
2017 kam das Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht hat es mit einer kleinen Ausnahme für verfassungsgemäss erklärt. Aber in der Urteilsbegründung haben die Richter geschrieben, dass Streiks auch zulässig sein könnten für einen sogenannten Minderheitstarifvertrag, der später möglicherweise gar nicht anzuwenden sein würde.
Sehen Sie hier gesetzlichen Korrekturbedarf, oder sehen Sie die Richter in der Pflicht?
Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder setzen sich die Arbeitsgerichte über diesen Nebensatz des Bundesverfassungsgerichts hinweg und wenden den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wieder so an, wie es damals in der Gesetzesbegründung, allerdings nicht im Gesetz, angeregt worden ist. Das würde heissen, dass sie Streiks für Minderheitstarifverträge, die nicht zur Anwendung kommen, als unverhältnismässig unterbinden würden. Oder der Gesetzgeber ringt sich durch und erlässt ein Arbeitskampf- oder Schlichtungsgesetz. Bis heute fehlt ein solches, weshalb das Arbeitskampfrecht Richterrecht ist.
Das Streikrecht wird also direkt aus dem Grundgesetz abgeleitet und von den Gerichten ausgelegt?
Ja. Im Grundgesetz ist die Koalitionsfreiheit garantiert, es ist nicht einmal vom Arbeitskampf die Rede. Das Recht, einen Arbeitskampf zu führen, ist aber mit geschützt durch die Verfassung, das hat das Bundesverfassungsgericht zu Recht immer so erklärt.
Wo ist das Problem beim Richterrecht?
Es hat sich in den letzten Jahrzehnten häufig geändert, weil neue Richtergenerationen zum Gericht kommen und immer wieder neue Regeln aufstellen. Dabei ist die Rechtsprechung in der Tendenz immer gewerkschaftsfreundlicher geworden. Zwar drücken sich die Gerichte häufig neutral aus, deshalb kann man auch sagen, dass die Rechtsprechung arbeitskampffreundlich ist. In der Praxis geht es aber um Streiks der Gewerkschaften. Aussperrungen durch Arbeitgeber gibt es in Deutschland in grösserem Masse seit Mitte der 1980er Jahre nicht mehr.
Früher fanden grosse Arbeitskämpfe eher in der Industrie und dann im öffentlichen Dienst statt. Heute werden vor allem Infrastrukturbetriebe wie die Bahn, der öffentliche Nahverkehr oder der Flugbetrieb intensiv bestreikt.
Das lässt sich ökonomisch begründen. Solange die deutsche Wirtschaft wenig international verknüpft war, konnte die Industrie bestreikt werden, ohne dass dies die Firmen bedroht hätte. Das war in den 1980er Jahren letztmals der Fall. Heute überlegen es sich mächtige Industriegewerkschaften wie die IG Metall dreimal, bevor sie einen langen Streik vom Zaun brechen. Zwar wären sie dazu in der Lage, weil sie sehr gut organisiert sind. Aber sie wissen, dass sie das Geschäft und gegebenenfalls Arbeitsplätze gefährden würden. Deswegen wird zwar gestreikt, um dem Arbeitgeber zu signalisieren, wer der Stärkere ist, aber ohne Eskalation. Damit kommen annehmbare Tarifabschlüsse zustande.
In der Infrastruktur ist es anders. Erstens gefährdet ein streikender Lokomotivführer oder Pilot seinen Arbeitsplatz erst einmal nicht. Schienen lassen sich nicht ins Ausland verlegen. Zweitens kann ein anderer Hebel angesetzt werden: Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen können, wenn sie in kleiner Zahl die Arbeit niederlegen, viel höheren wirtschaftlichen Schaden auf der Arbeitgeberseite und bei der Allgemeinheit anrichten. Hinzu kommen der Wegfall der Beamteneigenschaft bei Lokführern und Fluglotsen sowie die erwähnte Rechtsprechung.
Braucht Deutschland ein Arbeitskampfgesetz?
Ich würde das vor dem Hintergrund der heutigen Situation befürworten. Die Arbeitsgerichte, die sich an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu orientieren versuchen, kommen mit der Eskalation nicht zurecht. Deshalb würde es sich empfehlen, Schlichtungsregelungen oder auch eine besondere Rücksicht auf die Infrastruktur gesetzlich zu regeln, um der Eskalation entgegenzuwirken.
Was wären die wichtigsten Punkte eines solchen Gesetzes?
Ein einfacher Punkt ist die Ermöglichung von Kommunikation. Heute werden Streiks vom Zaun gebrochen, ohne dass vertieft verhandelt worden wäre. Das lässt sich gesetzlich regeln. Dann wäre eine Unterscheidung zwischen einem Warnstreik und einem Erzwingungsstreik denkbar. Weiter wären Verhandlungen möglicherweise durch Abkühlphasen mit Friedenspflicht zu flankieren. Einige Industriestaaten kennen als letztes Mittel zudem die Möglichkeit des Staates, befriedend einzugreifen. Aber das würde stark am verfassungsrechtlichen Massstab der Koalitionsfreiheit zu messen sein.
Was ist der Unterschied zwischen einem Warn- und einem Erzwingungsstreik?
Das ist eine alte Unterscheidung der Rechtsprechung, die die Rechtsprechung später aufgegeben hat. Der Grundgedanke war, dass man kurze Streiks durchführen kann, noch bevor ausverhandelt ist, um Stärke zu signalisieren und die eigenen Reihen zu schliessen. Beim Bundesarbeitsgericht ging ein Warnstreik bis maximal zwei Stunden. Der Erzwingungsstreik dauert länger, ist aber erst möglich, wenn die Verhandlungen gescheitert sind.
Werden Supermärkte bestreikt, kann ich anderswo einkaufen. Bei der Bahn kann ich kaum ausweichen. Sollte ein Arbeitskampfgesetz Sonderregeln für Infrastrukturbetriebe enthalten?
Das wird unter Arbeitsrechtlern stark diskutiert. Die Antwort lautet wohl Ja. Dafür spricht die besondere ökonomische Situation, die ich eben geschildert habe, aber auch das Bedürfnis der Allgemeinheit nach einer funktionierenden Infrastruktur.
Bei der gerichtlichen Überprüfung von Streiks ist derzeit die Verhältnismässigkeit das Hauptargument.
Das liegt an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Es hat alle anderen Kriterien aufgegeben. Die anderen Kriterien waren das Ultima-Ratio-Prinzip (Arbeitskampf als letztes Mittel), das Scheitern von Verhandlungen und die Unterscheidung zwischen Warn- und Erzwingungsstreik. Zudem hat das Bundesarbeitsgericht den Grundsatz der Verhältnismässigkeit 2007 neu definiert und erklärt, dass die Frage der Geeignetheit und Erforderlichkeit eines Arbeitskampfmittels nur durch die Gewerkschaft zu beantworten sei.
Der Ruf nach gesetzlichen Regeln ertönt immer wieder, trotzdem passiert nichts.
In der Wahrnehmung der Gewerkschaften und der gewerkschaftsnahen Parteien, also sicherlich der SPD und der Grünen, ist die durch Richter gestaltete Arbeitskampfordnung der parlamentarisch geregelten Arbeitskampfordnung vorzuziehen. Das beruht auf der Vorstellung, dass das derzeitige Richterrecht besonders arbeitskampffreundlich sei.
Aus juristischer Perspektive hat der Gesetzgeber seine Hausaufgaben nicht gemacht. Alles ist gesetzlich geregelt, nur nicht der Arbeitskampf. Aus politischer Perspektive der Gewerkschaften ist das hingegen ein zu bewahrender Zustand der Arbeitskampffreiheit. Das führt zu einem Dilemma zu Zeiten wie diesen: Auf der einen Seite brechen Gewerkschaften in der Infrastruktur Arbeitskämpfe vom Zaun, die in der Industrie und im sonstigen Dienstleistungsbereich nicht denkbar wären. Das nehmen die grossen Gewerkschaften als ärgerlich wahr. Auf der anderen Seite wäre es aus ihrer Sicht noch ärgerlicher, ein Gesetz zu erlassen.
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