Der Bund könnte Kantonen und Gemeinden bald die Geschwindigkeit auf der Hauptstrasse vorschreiben. Der Zürcher Stadtrat will aber weiter selbst entscheiden.
Tempo 30 greift mehr und mehr um sich. Immer mehr Gemeinden führen das Niedrigtempo auf Hauptverkehrsachsen ein. Die linke Regierung der Stadt Freiburg hat das Niedrigtempo kürzlich generell verordnet. Es ist ein Schritt, vor dem der Zürcher Stadtrat zurückschreckte, weil ihm die Mehrkosten für den öffentlichen Verkehr – der mit verlangsamt würde – zu hoch waren.
Doch nach wie vor beharrt der Zürcher Stadtrat auf Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen. Zum Beispiel auf der Rosengartenstrasse mit täglich 50 000 Fahrzeugen. In diesem Fall streitet er sich vor Gericht mit dem Kanton. Das Verfahren läuft.
Der Trend hin zum Niedrigtempo auf Hauptverkehrsachsen ist umso erstaunlicher, als das Verkehrsregime in der Bevölkerung gemäss Umfragen unbeliebt ist, sogar in städtischen Gebieten. In einer im Januar publizierten ETH-Umfrage sprachen sich 51 Prozent gegen Tempo 30 auf Hauptstrassen aus, eindeutig dafür waren lediglich 16 Prozent. Anders sieht es in den Quartieren aus: Dort begrüsst eine Mehrheit Tempo 30, mit Blick auf Sicherheit und Lärmbelastung.
Widerstand auf allen Ebenen
Dass sich Tempo 30 dennoch auf Hauptstrassen ausbreitet, führt zu Gegenwehr in der Politik, und dies auf allen staatlichen Ebenen. Im Kanton Zürich gibt es in Zürich und Winterthur städtische Initiativen. Auf Kantonsebene haben FDP und SVP je eigene Volksbegehren lanciert.
Und jetzt geht es Tempo 30 sogar auf höchster Ebene an den Kragen. Kommende Woche stehen in den eidgenössischen Räten zwei wichtige Entscheide dazu an.
Der erste ist ein Vorstoss von Peter Schilliger, FDP-Nationalrat aus dem Kanton Luzern. Schilliger will sicherstellen, dass die verschiedenen Strassentypen im Verkehrsnetz ihre Funktionen behalten. Nur so sei es möglich, den Verkehrsfluss zu gewährleisten. Auf Hauptstrassen soll grundsätzlich Tempo 50 gelten. Ausnahmen sollen für Kantone und Gemeinden möglich bleiben, etwa bei Schulen an Hauptstrassen.
Der Nationalrat hat bereits zugestimmt. Die Zustimmung im Ständerat gilt als wahrscheinlich.
Der zweite Entscheid betrifft das Bauen an lärmigen Lagen. Auch dieser Entscheid könnte für die Tempo-30-Frage gewichtige Folgen haben.
Es geht um den Lärmschutz. Weil in der Schweiz strenge Lärmauflagen gelten und die Gerichte konsequenter als früher dazu urteilen, können vielerorts keine neuen Bauten mehr an lauten Strassen erstellt werden. Mehrere Grosssiedlungen mit Hunderten von Wohnungen sind in der Stadt Zürich deswegen blockiert.
Bauherren, die Neubauten erstellen wollen, sind in den vergangenen Jahren unter Druck geraten. Diesen Druck geben sie oft an die Gemeinde-Exekutiven weiter. Sie verlangen nach Tempo 30, weil dies den Lärm reduziert. Und die Chance auf eine Baubewilligung erhöht.
Um dieses Bauen an lärmigen Lagen geht es nun kommende Woche im Nationalrat. Es soll wieder einfacher werden. Konkret will man zur Lüftungsfensterpraxis zurückkehren. Diese besagt, dass Lärmwerte nicht mehr an jedem Fenster einer Wohnung, sondern nur an einem sogenannten Lüftungsfenster gemessen werden. Bauherren können dadurch Wohnungen an lauten Lagen planen – solange die Bauten einen ruhige Rückseite haben.
Der Ständerat hat einer Gesetzesänderung im Herbst im Grundsatz zugestimmt. Am Montag dürfte der Nationalrat folgen.
Hoffen auf eine Trendwende
Strassenverkehrsgesetz einerseits, Lärmschutzverordnung andererseits: Es stehen fast zeitgleich zwei Gesetzesanpassungen an, die gegen Tempo 30 auf Hauptstrassen gerichtet sind. Bürgerliche Politiker wie Andreas Egli, FDP-Stadtparlamentarier und Verkehrspolitiker in der Stadt Zürich, hoffen, dass dies zu einer Trendwende führt.
Denn der Nutzen von Tempo 30 sei geringer, als oft kolportiert werde, sagt Egli. Das rechtfertige die Einschränkung der Mobilität nicht. Vor allem, wenn das niedrige Tempo praktisch flächendeckend gelte.
Den entscheidenden Hebel sieht Egli beim Lärmschutz. «Heute befürworten sogar viele bürgerliche Politiker in den Gemeinden Tempo 30 – schlicht und einfach deshalb, weil sie das Bauen in ihrer Gemeinde ermöglichen wollen.»
Markus Knauss, grüner Stadtparlamentarier und Co-Geschäftsführer des VCS Zürich, sieht es anders. Lärmschutz sei längst nicht der einzige Grund, weshalb Gemeindeexekutiven für Tempo 30 einträten. Es gehe auch um Verkehrssicherheit und Aufenthaltsqualität. Viele Hauptachsen führten heute nun einmal durch die Stadt- und Quartierzentren. Für Orte, an denen viele Leute lebten, sei Tempo 30 die richtige Lösung.
Wie rasch und wie effektiv sich die Gesetzesänderungen auf das Temporegime in Städten und Dörfern auswirken werden, sollten sie denn angenommen werden, ist unklar. Der FDP-Vorstoss zu Tempo 30 muss erst noch in einem Gesetzestext konkretisiert werden. Deshalb ist unklar, wie konkret die Vorgaben im Strassengesetz sein werden.
Dies bietet viel Raum für Interpretationen. Abzusehen sind zudem föderalistische Widerstände. Die Frage, ob der Bund vorschreiben soll, was auf der Dorfstrasse gilt, dürfte für Kontroversen sorgen. Der Zürcher Stadtrat hält nicht viel von der Idee. Der Gesundheitsvorsteher Andreas Hauri (GLP) teilt auf Anfrage mit: «Der Stadtrat ist überzeugt, dass die jeweiligen Städte und Gemeinden ihre Situation vor Ort am besten kennen, um jeweils die geeigneten Massnahmen umzusetzen.»
Es gibt auch Stimmen, die die Wirkung des FDP-Vorstosses im Nationalrat grundsätzlich anzweifeln. Zumal die Vorgabe von Tempo 50 ja längst in der Verordnung zum Strassenverkehrsgesetz verankert sei. Er habe aber keine Wirkung, weil die Gerichte den Lärmschutz jeweils höher gewichteten, wenn es hart auf hart gehe.
Alain Griffel, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, teilt diesen Einwand jedoch nicht. Er sagt auf Anfrage der NZZ, der Gesetzgeber könne das Strassengesetz durchaus so formulieren, dass es die Lärmschutzverordnung übersteuere.
Doch dafür müsse die Vorgabe exakt formuliert sein. Dies falle Politikerinnen und Politikern oft schwer. Dann sei es am Ende wieder das Bundesgericht, das eine Interpretation liefern müsse.
Die Tempo-30-Thematik befindet sich an der Schnittstelle von zwei Gesetzen, dem Strassenverkehrs- und dem Umweltschutzgesetz. Das dürfte die Sache weiterhin kompliziert machen.
Selbst bei vermeintlich klaren Verdikten der eidgenössischen Räte.