Eine Zeitschicht Mehr
Bernhard von Erlach baut das Dachgeschoss eines Altstadthauses in der Bundesstadt um. Dem Berner Architekten gelingt die Verzahnung von Alt und Neu zu einem bestechenden Ganzen.
Sie gilt als eine der schönsten Gassen der Welt: Die Berner Gerechtigkeitsgasse ist 260 Meter lang und keineswegs eine kleine Gasse, sondern eine der Hauptstrassen in der Altstadt von Bern. Als Unesco-Welterbe geschützt, besticht sie mit ihren Sandsteinbauten aus Mittelalter und Barock und den Laubengängen.
«Die Bogengänge auf beiden Seiten der Strasse ermöglichen es, selbst bei starkem Regen durch die Stadt zu gehen, ohne nass zu werden», schrieb Albert Einstein zu Beginn seiner sieben Berner Jahre an seine künftige Frau Mileva. Er war 1902 als Junggeselle in die Gerechtigkeitsgasse gezogen, die junge Familie wohnte später an der Kramgasse.
So einheitlich die Altstadt als Gesamtes daherkommt, so divers ist der Wohnraum: Es gibt Häuser mit zwei bis neun Fensterachsen, Häuser mit Hinterhäusern und solche, die von einer Gasse zur anderen reichen.
In einem dieser Häuser wünschte sich eine fünfköpfige Familie, die bereits den vierten Stock bewohnte, mehr Licht und mehr Raum. Beides versprach nur ein Umbau des Dachstocks, der ursprünglich ein Abstellplatz sowie Ort kleiner Mansardenzimmer war und ab den 1990er Jahren bereits als Wohnraum genutzt wurde.
Schnell war der Wunsch-Architekt gefunden, Bernhard von Erlach, ein Freund der Familie. «Uns haben seine Expertise und sein gutes Auge für Farben und Formen in den Altstadthäusern von Bern beeindruckt», erklärt die Bauherrin. «Er erfasst die Eigenschaften des Raums und den Bedarf der Bewohnerinnen und Bewohner und versteht seine Arbeit darin, diese in Einklang zu bringen.» So hatte der Berner Architekt beispielsweise bereits das Zeerlederhaus umgebaut.
Kontrastreiches Farbkonzept
Komplementäre Kontraste Bernhard von Erlach setzte beim Ausbau des Estrichs auf die Verzahnung von Alt und Neu. So bewahrte er die Bodenplatten aus Keramik. «Sie finden sich in vielen Dachböden der Altstadt, da sie als Art Feuerschutz dafür sorgten, dass ein Feuer nicht von Dachboden zu Dachboden überspringt.»
Die Platten in unregelmässigen Braun und Terrakottatönen kontrastieren nun aufs Schönste mit den Farben der Wände: Zur Treppe hin sind die Ausfachungen und die Riegkonstruktion in Blau – dem tiefblauen Pariser Blau.
Die Giebelwände und Stützbalken selbst erhellen mit weiss-blauer Lackierung aus Naturpigmenten den Raum. Kleine lukenartige, fast maritim anmutende Fenster, die zuvor mattiert waren, bringen mit klarem Glas nun mehr Licht in den Raum.
Ein bestehendes Lüftungsrohr aus den unteren Etagen, das ehemals hinter einer Küchenzeile verborgen war, wurde nun leuchtend rot gestrichen und weist markant auf seine Funktion hin. «Dieser Raum hat nie als Repräsentationsraum gedient», sagt von Erlach, «das hat meine Materialwahl bestimmt.»
Einladende Inseln für Leseratten und Haustiere
Verschiedene Inseln prägen den fast 70 Quadratmeter grossen Raum. So kann die Familie zusammen sein, aber dennoch jeder eine Ecke auch für sich finden. Ein grosser Holztisch unter drei goldfarbenen Spokes-Leuchten von Foscarini lädt zum geselligen Speisen miteinander ein. Ein Sessel auf einem Teppich wartet auf eine Lesestunde.
Eine besonders schöne Rückzugsecke bietet der Platz unter dem zum Balkon hin gewandten Giebel. Niedrige Sitzbänke aus einem geölten Holzwerkstoff in einem Mooston mit graublauen Sitzpolstern rahmen den Ausgang zur Dachterrasse.
Hohe, original erhaltene Sprossenfenster lassen den Blick über die Dachlandschaft der Altstadt schweifen. Hier lässt es sich gut mit einem Kaffee in der Hand chillen. Eine Katzenklappe verschafft auch dem Haustier der Familie Zugang zum Balkon.
Massgefertigte Schreinereiarbeiten
Grün wie Sitzecke und Wand ist auch die Küchenzeile. Hinter der freistehenden Kochinsel mit Arbeitsplatte aus Beton verbirgt sich hinter Falttüren eine Front für die Küchengeräte. Als Kontrast zur modernen Küche präsentiert sich ein kleiner schwarzer Kachelofen: «Er stand zuvor etwas verloren im Raum, nun haben wir ihn nah an der Küche platziert.»
Über der Küchenzeile schwebt eine Galerie im Kleinformat, wie die Küche massgefertigt von der Schreinerei Baumann + Eggimann. Sie wirkt wie eine Raumskulptur und bedurfte grosser handwerklicher Könnerschaft, ist der Boden doch nirgendwo gerade.
Über eine schmale Samba-Treppe gelangt man nach oben, wo ein gemütliches Tagesbett auf einen wartet. Es besticht mit lila Samt und orangefarbenen Paspeln, ein Eigenentwurf des Architekten.
In den vierten Stock mit seinem mittelalterlichen Ambiente führt eine Holztreppe mit einem schwarzen Metallgeländer, dessen Handlauf in Rot glänzt. Den Aufgang aus den 1990er-Jahren werten nun in Dunkelblau lackierte Trittstufen auf. Tritt man unten in den dunklen Gang ein, zieht es einen hoch ans Licht – ein gewollter Effekt. «Mir gefälltes immer wieder, an einen Ort zu kommen, an dem schon lange gelebt wurde», erklärt von Erlach.
«Ich kann diesem Ort eine weitere Zeitschicht hinzufügen.» Diese neue Schicht wird von der Bauherrschaft sehr geschätzt: «Der Ausbau passt zu uns, er ist offen, gemütlich, aber auch cool – und wir geniessen die schönen Farben jeden Tag.» Auch Einstein hätte es hier wohl gepasst.
Ein Artikel aus dem «Residence»