«Zehn Jahre» von Matthias von Gunten porträtiert vier junge Schweizerinnen und Schweizer beim Aufwachsen – und zeigt: Manchmal kommt es anders, als man denkt.
Die Kamera hält auf den Teig und die Hände, die ihn bearbeiten. Er wird geknetet, geformt, eingeschnitten. Im Backofen wachsen die bleichen Teiglinge zu vollendeten Broten.
Vom Wachsen und Werden handelt «Zehn Jahre», der neue Dokumentarfilm des Schweizer Regisseurs Matthias von Gunten («ThuleTuvalu»). Der 17-jährige Bäckerlehrling Pascal soll dereinst den Betrieb des Vaters übernehmen. Ob er das will, diese Frage beschäftigt ihn. Doch die eigenen Träume schiebt er vorerst auf, um den Vater zu unterstützen.
Die 29-jährige Lucia ist sich hingegen sicher: Psychiaterin. Sie studiert Medizin. Die 19-jährige PH-Studentin Hanna weiss seit ihrer Kindheit, dass sie Primarlehrerin werden will. Und der 28-jährige Victor ist erfolgreicher Oboist, seine Zukunft sieht er aber am Dirigentenpult.
Zehn Jahre begleitet Matthias von Gunten die vier jungen Schweizerinnen und Schweizer mit der Kamera beim Aufwachsen. In 115 Minuten lässt er all die Zeit Revue passieren.
Alltagsszenen und Selbstreflexion
2011, als von Gunten zu filmen beginnt, stehen die Porträtierten kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Die Zukunft aber haben die vier fest im Blick. Im Epilog des Films, im Jahr 2022, haben sie ihren Platz gefunden – mitunter ist dieser ein ganz anderer als einst erträumt.
Die Perspektive auf ein Jahrzehnt und der offene Ausgang, wie sich die Jugendlichen wohl entwickeln, machen die Langzeitbeobachtung aus.
Intim, aber nicht aufdringlich bildet die Kamera das Gelingen und das Scheitern, die Zweifel und das Glück bei der Arbeit ab. Hanna muss die Klasse bändigen, Streit schlichten, ohne die Nerven zu verlieren. Lucia ringt mit sich nach dem Selbstmordversuch einer Patientin.
Sie kommen an ihre Grenzen und wachsen schliesslich an ihrer Rolle, gewinnen Vertrauen, erhalten Anerkennung. Der Beruf wird damit zur höchsten Form der Selbstverwirklichung.
Familiäre Verhältnisse, Freundschaften, Freizeit werden nur oberflächlich gestreift. Charakterbildende Erlebnisse mit Potenzial für Brüche und Dramen wie das erste Piercing, das Comingout, ein Haus, ein Kind finden bei den einen Erwähnung, bei anderen fehlen sie im Film.
Die Träume bleiben
Die Alltagsszenen wechseln mit Aufnahmen ab, in denen die Protagonisten direkt in die Kamera sprechen und ihre Situation reflektieren. So wird die veränderte Selbstwahrnehmung erlebbar gemacht. «Man hat so eine Idee von sich, wie man sein will und sein wird», sagt etwa Hanna. «Aber dass ich mich so oft hinterfragen muss: Ist das richtig so, bin ich zufrieden so? Das habe ich nicht gedacht, dass das so oft passieren wird.»
Montiert sind die Momentaufnahmen chronologisch, ohne sichtbare Unterbrüche. Die Jahre vergehen, und wenn am Schluss des Films Vorher-nachher-Bilder gezeigt werden, wird einem erst bewusst, wie stark die jungen Menschen sich verändert haben. Gerade so, wie es einem selbst im Leben ergeht.
Von Gunten hat die Drehzeit von den ursprünglich geplanten drei auf zehn Jahre verlängert. Das mag auch daran liegen, dass ab und zu nichts Nennenswertes passiert: «Ich habe so wenig gemacht seither», sagt Victor bei einer Begegnung.
Auf die Frage, die am Anfang des Projektes steht: «Wie packt diese Generation ihr Leben an?», gibt es keine abschliessende Antwort. Die Millennials machen es möglicherweise wie jede andere Generation: mit einer pragmatischen und optimistischen Einstellung gegenüber dem Unbekannten.
«Zehn Jahre» ist ein angenehm unaufgeregter Film, ein realistisches Abbild von vier gewöhnlichen Leben, die Höhen und Tiefen haben und deren Entwurf immer wieder angepasst wird. Lucia sagt gegen Ende des Films: «Die Kreise, in denen ich denke, sind kleiner und konzentrierter geworden. Typisch halt, ich hatte das Gefühl, ich möchte die Welt verändern. Und möchte das weiterhin, aber ich glaube, mehr im Kleinen.»
Der Film lädt dazu ein, nachzudenken – darüber, was das eigene Leben versprochen hat, was bisher eingelöst wurde und was nicht gehalten werden konnte. Darüber, was wir aus unserem Leben machen oder nicht – oder was das Leben aus uns macht.