Anders sein ist noch kein ästhetisches Programm, anders tanzen dagegen schon. Das zeigen die beiden jüngsten Tanzplattformen in Freiburg und Zürich. Die eine setzt vor allem auf gesellschaftliche Visionen – die andere auf künstlerische Vielfalt.
Der Wunsch nach Diversität im Tanz treibt zuweilen seltsame Blüten. Das war kürzlich an den Plattformen für zeitgenössischen Tanz in Deutschland und in der Schweiz zu beobachten. Die Plattformen finden alle zwei Jahre als Schaufenster für Tanzveranstalter aus der ganzen Welt statt und geben einen Überblick über die Trends in der Tanzszene. Häufig offenbaren sie freilich auch die Trends in den Absichten der jeweiligen Programmmacher. Das bekommt der Tanzkunst nicht immer gut.
So brachte an den diesjährigen Festivals in Freiburg im Breisgau und in Zürich der Wunsch nach Diversität der Künstlerinnen und Künstler einige Stilblüten hervor, die trotz besten Vorsätzen unfreiwillig komisch wirkten. Etwa wenn an den der Swiss Dance Days 2024 die Performerin Élie Autin in Spitzenmieder und Tüllhöschen im Kreis herumhüpft und sich schliesslich etwas ins Maul stopft, das als blutige Masse wieder herauskollert. Laut Programmheft soll das «die Brutalität und Verletzung von (Alltags-)rassismus» aufzeigent». Man kann ihre Performance «Présage» in Zürich aber auch als Selbstdarstellung lesen und sie recht bequem in irgendeiner Schublade des Sehgedächtnisses verstauen.
Queerness allein ist eben kein ästhetisches Programm, Hautfarbe eigentlich auch nicht – sollte es zumindest nicht sein. Auch wenn People of Color so lange und immer wieder aus westlichen Tanzszenen und ihren Institutionen ausgeschlossen wurden.
Spiel mit Stereotypen
Dass die Diskussionen um Postkolonialismus, Identität, Body-Positivity im Tanz aufscheinen, liegt nahe. Das Normative im Tanz, Körpernormen und ihre Abbilder beschäftigen die Tanzschaffenden der freien Szene seit je. Die stärksten Arbeiten aber, die an den Swiss Dance Days zu erleben sind, spielen mit dem Anderen, stellen es jedoch nicht dar und schon gar nicht aus. Sie spielen mit Stereotypen und Klischees, ohne sie zu benennen. So etwa der in Basel lebende Amerikaner Jeremy Nedd, der mit seiner Gruppe von südafrikanischen Pantsula-Tanzenden in «How a fallig star lit up the purple sky» den Western aufs Korn nimmt.
Oder Trajal Harrell, der in seinem grossen Zürcher Werk «Monkey off My Back or the Cat’s Meow» Künstlerinnen und Künstler mit unterschiedlichen Fertigkeiten, kulturellen Hintergründen und Identitäten auf den Catwalk schickt. Wenn Darsteller vom Schauspielhaus Zürich in der Mitte des Stücks die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 verlesen, während das Ensemble weitertanzt, wird die revolutionäre Energie der 13 britischen Kolonien anschaulich, ja förmlich fühlbar.
Und noch mehr als das. Während die Worte zunehmend untergehen im Tumult von lauter Musik und wildem Tanz, wird dieses Streben nach Unabhängigkeit relativiert, als würden sich hier und jetzt die Stimmen all jener erheben, für welche Unabhängigkeit und Gleichheit eben nicht galt. Wir hören sie tief in uns, ohne dass sie laut würden, allein durch die Energie, die Trajal Harrell mit seinem Ensemble entfacht. So muss Tanzkunst sein. Nicht nur an den hoch subventionierten Häusern. Dass indes das Schauspielhaus Zürich an den diesjährigen Swiss Dance Days erstmals so stark eingebunden wurde und eine Eigenproduktion präsentieren durfte, ist ein gutes Zeichen.
In der freien Schweizer Tanzszene hat sich in den letzten Jahren einiges entwickelt, was hoffen lässt. Die Tanzschaffenden werfen sich wieder vermehrt in Bewegung und Choreografie – und sind technisch merklich versierter geworden. Und die Jury-Mitglieder der Swiss Dance Days, die dieses Jahr aus 218 Eingaben 15 Stücke auswählten, scheinen Bewegung und Choreografie auch wieder vermehrt zu trauen.
Anders in Deutschland
Die zeitgenössische freie Tanzszene der Schweiz gab damit ein ungleich stärkeres Bild ab als ihre Schwester im grossen Nachbarland. Das liegt nicht zwingend am Zustand der deutschen Tanzszene. Die Jury der Tanzplattform Deutschland scheint mehr ihren gesellschaftlichen Visionen als ästhetischen Kriterien gefolgt zu sein und konzentrierte sich auf Arbeiten mit nichtkonformen Körpern oder über nichtkonforme Lebensweisen.
Dafür liessen sich aber offensichtlich unter den 550 Bewerbungen nicht genügend gute Stücke finden. Von den sieben Arbeiten, die in Freiburg gezeigt wurden, konnte nur eine restlos überzeugen: «Mellowing» von Christos Papadopoulos mit dem Berliner «Dance On Ensemble» für ältere Tänzerinnen und Tänzer.
Auch an den Swiss Dance Days wurde der Wunsch der Jury nach Diversität unter den Darstellenden sichtbar, doch setzte sie zugleich auf eine Vielfalt von Formen – was künstlerisch weitaus produktiver ist. Präsentiert wurden Stücke, die sich auf unterschiedliche aktuelle Themen beziehen, wie beispielsweise «2020: Obscene» von Alexandra Bachzetsis. Die Performance spielt mit unserem Drang zu Selbstinszenierung und -optimierung auf Social Media – und schafft die schwierige Gratwanderung zwischen Darstellung und Selbstdarstellung.
Präsentiert wurden aber auch Stücke, die ganz von der Form her gedacht wurden, wie das feine «Efeu» von Thomas Hauert und «Without References» von Cindy Van Acker. Leider konnte Van Ackers kluge und komplexe Arbeit nur gestreamt werden, weil das aufwendige Bühnenbild in keinen der zur Verfügung stehenden Räume passte. Das hat dem meisterlichen Werk der Genfer Choreografin, die 2023 mit dem Schweizer Grand Prix Darstellende Künste/Hans-Reinhart-Ring ausgezeichnet wurde, zugesetzt und sich trotzdem gelohnt.
Elf Personen finden sich in einem Wartsaal, interagieren, oder auch nicht. «Without References» ist inspiriert von Alain Resnais’ Film «L’Année dernière à Marienbad» und von Jim Jarmuschs Western «Dead Man», der die ganze Zeit im Fernseher läuft, aber nicht wirklich zu verstehen ist. Ist auch nicht so wichtig – was die Choreografie antreibt, ist die Form, die Struktur der Filme sowie die Struktur von Bachs unvollendeter Schlussfuge aus der «Kunst der Fuge», welche die Tänzerinnen und Tänzer im Ohr haben, während wir Xylophon-Klänge hören. Zu kompliziert? Nein, ein Stück von wundersamer Schönheit.
«Without References» ist für die Comédie de Genève entstanden. Und in der Zusammenarbeit von Tanzschaffenden aus der freien Szene mit den Institutionen scheint einiges an Potenzial zu liegen. Die Produktionen müssen ja nicht gleich so gross werden, dass die Freien damit nicht mehr touren können.