1915 begaben sich die New Yorkerinnen Effie Hotchkiss und ihre Mutter auf eine Motorradreise in Richtung San Francisco. Das hatte vor ihnen noch keine andere Frau gewagt.
Sie wussten sich selbst zu helfen. Effie und Avis Hotchkiss hatten mit ihrem Motorrad im amerikanischen Gliedstaat New Mexico kurz nacheinander drei Platten gehabt. Jedes Mal war der Schlauch geplatzt. Etwa acht Kilometer von der Stadt Fulton entfernt gingen ihnen die Ersatzschläuche aus. Also formten sie notgedrungen einen Schlauch aus einer Decke. Allerdings mussten die beiden Frauen regelmässig anhalten, um die Konstruktion zurechtzurücken.
Sie brauchten dringend einen neuen Schlauch. In Fulton gab es nichts. Also mussten sie die nächste Stadt, Santa Fe, erreichen. Ein Autofahrer nahm Effie Hotchkiss mit, während ihre Mutter mit dem Fahrzeug in der Wüste zurückblieb. Bevor sie losfuhr, warf Effie ihrer Mutter noch ihre Pistole zu. Wenig später fiel ihr ein, dass diese gar nicht wusste, wie man die Waffe lädt.
1915 durften Frauen in den USA – mit einigen Ausnahmen in gewissen Gliedstaaten – noch nicht wählen, Hosen zu tragen, war für sie mancherorts verboten, und auf Motorrädern sah man sie kaum. Am 4. Mai 1915 titelte «The Richmond palladium and sun-telegram» in den Sport-Kurznachrichten auf der dritten Spalte: «Mädchen fährt mit dem Motorrad in den Westen».
Das «Mädchen» war bereits 19 Jahre alt und hiess Effie Hotchkiss. Sie kam aus Brooklyn, New York, und arbeitete im Büro eines Wall-Street-Brokers. Doch sie war des Stadtlebens müde. Die junge Businessfrau hatte genug von der Monotonie und von der Anspannung in New York. Und sie sei nicht die Einzige gewesen, schrieb sie 1916 in einem Essay in «The New York Sun». Tausende von anderen jungen Frauen fühlten sich gleich. Jeden Tag an der Wall Street habe sie ihren Alltag mehr als tags zuvor gehasst, schrieb sie.
Der Tod ihres Vaters hatte sie gezwungen, ins Arbeitsleben einzutreten. Der anfängliche Enthusiasmus war nach kurzer Zeit verflogen. Im Essay hielt sie fest: Mir wurde klar, wie sinnlos Ehrgeiz ist, wenn man nur Teil einer grossen Maschinerie ist. Die Jahre vergingen wie im Flug und waren eintönig.
Weil sie nervlich am Ende war, riet ihr Arzt, die Arbeit niederzulegen und sich eine Auszeit zu nehmen. Und Hotchkiss kam dabei schnell die Idee, auf eine grössere Reise zu gehen. Also kaufte sie sich für 275 Dollar ein Motorrad. Jede freie Minute verbrachte sie damit, das Gefährt und seine Teile zu studieren. Sie stattete es mit einem Beiwagen aus und nahm ihre Mutter mit auf Touren. Es zog die beiden aus der Stadt.
Die ganze gesegnete Natur war das, was ich wollte – ein Ort, an dem ich vergessen könnte, dass es eine Uhr oder einen Kalender gibt. (. . .) Es gab wirklich etwas Besseres zum Fahren als Asphalt.
Dann schlug die Mutter vor: «Lass uns nach Kalifornien gehen.» Der Plan war, die Weltausstellung «Panama-Pacific International Exposition» in San Francisco zu besuchen.
Mit dem Jahrmarkt auf 600 Hektaren wurde von Februar bis Dezember 1915 die erfolgreiche Fertigstellung des Panamakanals gefeiert. Laut dem National Park Service besuchten insgesamt 18 Millionen Menschen die Messe. Erstmals wurde an einem solchen Event ein transkontinentales Telefongespräch demonstriert, die drahtlose Telegrafie gefördert und die Nutzung des Automobils empfohlen.
An dem Tag, an dem ich an der Wall Street kündigte, fühlte ich mich wie ein freigelassener Vogel, aber meine Arbeitgeber waren entsetzt. «Sie sind verrückt!», rief einer aus. «Das Ding ist suizidal, es wird deine Mutter umbringen. Du weisst einfach nicht, was du da tust.» – «Wahrscheinlich nicht», antwortete ich. «Mein Horizont war bisher sehr begrenzt. Nun werde ich ihn erweitern.»
Erstaunlich wenig mediale Aufmerksamkeit
Mutter und Tochter begaben sich am 3. Mai 1915 auf die Reise über
14 500 Kilometer Richtung Pazifikküste.
Hotchkiss wollte beweisen, dass «ein Mädchen eine Langstreckenfahrt mit dem Motorrad genauso gut wie ein Mann und mit genauso wenig Schwierigkeiten bewältigen kann», schrieb die Zeitung «The Richmond palladium and sun-telegram». Miss Hotchkiss sei eine erfahrene Fahrerin und könne aufgrund ihrer mechanischen Kenntnisse auch Reparaturen an der Maschine vornehmen. Nicht weniger erwartungsvoll sei Mrs. Hotchkiss. Im Gespräch mit Journalisten kündigten sie an, dass sie draussen campieren würden und nur wenn unbedingt nötig in einem Hotel unterkommen würden.
Während eines kurzen Abschnitts begleiteten sie noch Freunde, doch ab Ossining, New York, waren sie auf sich allein gestellt. Wir waren beide nervös, in Tränen und verängstigt, als sie uns verliessen und wir feststellten, dass wir allein waren, der grossen, unbekannten Welt gegenüberstanden, erinnerte sich Hotchkiss.
«Sie war zu ihrer Zeit eine Pionierin. Damals war es den Frauen knapp gestattet, das Haus zu verlassen», erklärt Leslie Kendall, Kurator und Chefhistoriker des Petersen Automotive Museum in Los Angeles, auf Anfrage der NZZ. Dort ist heute das historisch bedeutsame Fahrzeug von Hotchkiss, die Harley-Davidson 11-F, ausgestellt. Das Land zu durchqueren, habe als etwas gegolten, das Männern vorbehalten gewesen sei, sagt Kendall. «Sie hat gegen die Geschlechternormen verstossen. Frauen und der Wilde Westen passten nicht unbedingt zusammen.»
Dennoch war das mediale Interesse laut Kendall nicht so gross, wie es hätte sein können. Dabei sei das Unterfangen ein «big deal» gewesen. Damals habe es keine Strassen gegeben, die beiden mussten über Berge fahren, Flüssen und Pferdepfaden folgen – den eigenen Weg finden, per Kompass und mithilfe von limitierten Landkarten. Ihre Reise habe über Staubstrassen und im Regen durch Schlamm geführt. Ein riskantes Unterfangen mit einem Motorrad mit Seitenwagen.
Kendall erinnert daran, dass Effie Hotchkiss mancherorts hätte verhaftet werden können fürs Hosentragen – die beiden Pionierinnen mussten auf ihrer Route notgedrungen einen dieser Gliedstaaten durchqueren.
Von Kojoten und Klapperschlangen
Nach 15 Stunden «on the road» machten sie Rast. Erstmals übernachteten die Frauen im Freien. Die Kälte und die Stille überwältigten sie. Kein einziger Windhauch regte sich, und die Sonne, die gerade aufging, strahlte in einem Glanz, der selbst die Salbeibüsche schön machte, hielt Effie Hotchkiss fest.
Hotchkiss war offenbar eine gute Schützin, sie schoss mehrere Hasen auf dem Weg, tötete drei Klapperschlangen; Reptilien, die sie auf dieser Reise das erste Mal angetroffen hatte. Bei Kansas City wurden sie in der Nacht von einem Heulen aufgeschreckt. Sie gingen davon aus, dass es Hunde waren. In einem Ranch House wurden sie aber aufgeklärt, dass es sich um Kojoten gehandelt haben musste.
Am nächsten Tag sah Effie Hotchkiss ein graues Tier hinter einen Felsen huschen. Ich nahm meinen Revolver und wartete, für den Fall, dass wir ein weiteres Tier sehen würden. Bald tauchten zwei weitere auf und begutachteten uns neugierig. Mich amüsierte, wie perplex sie waren, und ich schoss nicht. Aber das nächste Tier kam näher. Ich traf es gezielt, es starb ohne Kampf.
Hotchkiss wollte dem Kojoten das Fell abziehen für einen Teppich, gab das Vorhaben aber auf, weil das Tier zu gross war. Um für ein Foto zu posieren, hielt sie das Tier an den Beinen hoch, doch der Filmstreifen wurde von der Hitze zerstört. Enttäuscht schrieb sie in ihrem Essay: Und nun habe ich keinen Beweis dafür, dass ich eine Kojotenjägerin bin.
Am 4. Juli, mehrere Meilen von Albuquerque entfernt, erfroren sie nach eigenen Angaben fast. Auch diese Nacht verbrachten sie draussen, aber trotz den vier Decken und je zwei Pullovern konnten sie sich nicht warm halten.
Die Faszination der anderen
Nach mehreren Pannen wartete die Mutter in der Wüste auf ihre Tochter Effie, die in der nächstgelegenen Stadt auf der Suche nach einem Schlauch war. Währenddessen musste Effie dauernd an ihre Mutter denken, allein bei den Kakteen in der Wüste, unwissend, wie sie die Waffe bedienen sollte.
Der einzige Schlauch, der verfügbar war, war ein gebrauchter, mehrfach geflickter, den Hotchkiss einem anderen Motorradfahrer abkaufen konnte. Als sie wieder bei ihrer Mutter ankam, hatte diese bereits vierzig Stunden lang nichts gegessen. Schnell wechselten sie den Schlauch aus und gingen ihren Hunger stillen. Für den Rest der Reise war der Beiwagen immer mit genügend Essen für mehrere Mahlzeiten gefüllt.
Im Gespräch mit dem Magazin «The Harley-Davidson Dealer» hielt sich Effie Hotchkiss darüber bedeckt, was sie in der Wüste erlebt hatten, und erzählte lediglich: «Wir haben es gut überstanden, indem wir uns Taschentücher über das Gesicht gebunden haben, um keine Blasen zu bekommen.»
Bewundernd hielt das Magazin fest: «Motorrad- und Autofahrer brauchen in der Regel mehrere Seiten, um die Fahrt durch die Wüste zu beschreiben, aber für Miss Hotchkiss war es nur ein Zwischenfall während der Reise.»
Ohne die Begleitung anderer Fahrzeuge und entgegen der Empfehlung von Bekannten und von Personen, denen sie unterwegs begegneten, fuhren sie alleine 241 Kilometer durch die Mojavewüste – in drei Tagen. All den angekündigten Gefahren hatten sie erfolgreich getrotzt.
Sie erreichten die Westküste nach zwei Monaten. Zur Feier ihres Erfolgs fuhren sie in San Francisco an den Strand, wo Effie Hotchkiss Wasser aus dem Atlantik aus einem Krug in den Pazifik goss. Den Moment liessen sie fotografisch festhalten.
Damit waren die Hotchkisses die ersten Frauen, die den amerikanischen Kontinent mit einem Motorrad und Beiwagen durchquert hatten. In einem Kommentar in der «Orange County Times-Press» hiess es: «Ein interessantes Beispiel, wie weit es Frauen mit Entschlossenheit bringen können.»
Als sie in San Francisco von Journalisten des «Harley-Davidson Dealer» interviewt wurden, versammelte sich eine Menschenmenge. Die Frauen erzählten von der Etappe nach Chicago, bei der sie innerhalb eines Tages sechs Reifenpannen gehabt hatten. Ein Mann fragte: «Was haben Sie da getan?» Hotchkiss antwortete knapp: «Wir haben sie repariert.» Und lachte.
«Sie ist ein typisches amerikanisches Mädchen des Typs, das die freie Natur liebt. Sie glaubt, dass ein Mädchen alles tun kann, was ein Junge tun kann – und sie tut es auch», analysierte «The Harley-Davidson Dealer».
Gegen Ende August traten sie die Rückreise gen Osten an. Dabei durchquerten sie unter anderem die Wüsten der Gliedstaaten Nevada und Utah. Fünf Monate lang waren sie insgesamt unterwegs.
«The Harley-Davidson Enthusiast» schrieb, dass sie als eine Art Heldin zurückgekehrt sei. Und die beiden Frauen kündigten an, dass sie, sobald sie das Geld gespart hätten, den nächsten Trip planen würden. Doch bis dahin schrieb Effie Hotchkiss wehmütig: Ich muss meine Zeit hinter den Gefängnismauern der New Yorker Bürogebäude fortsetzen. Mein Herz ist draussen in der Prärie.