Jahrelang informierte der Whistleblower die Öffentlichkeit über eklatante Mängel beim Flugzeugbauer Boeing. Jetzt fand man ihn tot auf – seine Mission ist ihm zum Verhängnis geworden.
Es war der letzte Tag eines Mannes, der Boeing hart kritisierte, weil ihm die Firma so am Herzen lag. Ein heftiger Regensturm wütete am vergangenen Samstagmorgen über Charleston im US-Gliedstaat South Carolina. John Barnett sollte an diesem Morgen den dritten Tag in Folge von Anwälten, denen von Boeing und seinen eigenen, ins Kreuzverhör genommen werden und unter Eid aussagen.
Seit 2019 war der 62-Jährige ehemalige Manager in der Boeing-Qualitätskontrolle immer wieder in den Medien aufgetreten. Mit immer der gleichen Botschaft und unglaublich klingenden Berichten, die belegen sollten, welche eklatanten Qualitäts- und Sicherheitsmängel in der Boeing-Produktion herrschten. Vor allem dort, wo Barnett arbeitete, im 2010 neu eröffneten Werk in Charleston, in der Produktion des 787 Dreamliners.
Boeing wies das lange zurück, die US-Luftfahrtbehörde FAA leitete immer wieder Untersuchungen ein und fand immer wieder Belege dafür, dass Barnett recht hatte, und erliess entsprechende Anordnungen für den Flugzeughersteller. Im Juni sollte nun der grosse Prozess Barnett vs. Boeing starten, in dem Barnett seine ehemalige Firma verklagte, auch wegen der Art, wie er aufgrund seiner anfänglich nur intern geäusserten Kritik aus seinem Job gemobbt worden war, wie er es empfand. 2017 hatte er Boeing verlassen müssen.
Als er am Samstagmorgen nicht zu der Befragung erschien, rief sein Anwalt Robert M. Turkewitz im Holiday Inn Hotel am Savannah Highway an, wo Barnett abgestiegen war. Sieben Jahre hatte der Qualitätsmanager in Charlotte gearbeitet und gelebt, war nun aber nach Pineville in seinem Heimatstaat Louisiana zurückgekehrt.
«Ich weiss nicht, ob er ein Ziel für jemand war»
Hotelmitarbeiter fanden Barnett tot in seinem Pick-Up-Truck auf dem Hotelparkplatz, bei ihm eine Pistole sowie eine handgeschriebene Notiz. Die Polizei erklärte, alles deute auf Selbstmord hin. Sein Kampf um Transparenz und Aufklärung der Öffentlichkeit über hanebüchene Zustände beim Flugzeugbauer hatte allem Anschein nach ihren letzten Tribut gefordert. Sein Anwalt erklärte: «Ich weiss nicht, ob er ein Ziel für irgendjemand war. Aber ich bin sicher, es gab Leute, die böse auf ihn als Whistleblower waren.»
Barnetts Mutter Vicky Stokes erklärte der «New York Times», dass ihr Sohn sehr unter der Auseinandersetzung mit Boeing gelitten habe. Dies habe sich in seinem Äusseren niedergeschlagen, er habe inzwischen älter ausgesehen als seine drei Brüder, dabei sei er der jüngste gewesen. «Er hat diese Last so viele Jahre auf seinen Schultern getragen», sagte sie.
Die grosse Leidenschaft Barnetts, der wegen seiner Herkunft aus dem von Sümpfen geprägten Louisiana den Spitznamen Swampy trug, seien Autorennen auf Schlammpisten gewesen. Das erzählte seine Nichte Katelyn Gillespie der «Seattle Times». Sie beschrieb ihn als «die selbstloseste Person, die man sich denken kann.» Sowohl privat wie auch in seinem Kampf gegen Boeing. «Er hat die Firma nicht wegen des Geldes verfolgt, sondern um Leben zu retten.»
Fernsehbilder des Senders ABC zeigen John Barnett 2019 an seinem Küchentisch in Louisiana, vor ihm gerahmte Zertifikate und Auszeichnungen seiner langen Karriere bei Boeing. Eine Urkunde vom September 2014 rühmt ihn für seinen 30-jährigen «wertvollen Dienst für die Boeing Company», ihm wird gedankt dafür ein «integraler Teil» gewesen zu sein «beim Aufbau unserer Zukunft als globales Unternehmen.» Unterschrieben vom damaligen CEO Jim McNerney.
Er stieg nie mehr in ein Flugzeug
Barnett sprach mit gemütlichem Südstaaten-Akzent, wirkte in sich ruhend. Aber was er in die Kamera sagte oder Reportern diktierte, hatte es in sich, immer wieder, über Jahre. So sei der gesamte, stets von Lieferverzögerungen belastete Herstellungsprozess der Boeing 787 überhastet und auf Kosten der Sicherheit abgelaufen, defekte Teile seien verschwunden und später trotz Mängeln in Flugzeuge eingebaut worden.
Tatsächlich galt die Produktionsqualität der aus Charleston kommenden 787 längere Zeit als so mangelhaft, dass grosse Boeing-Kunden wie Qatar Airways sich vertraglich zusichern liessen, nur in Seattle gefertigte 787 geliefert zu bekommen. Die spätere Verlagerung der gesamten 787-Produktion nach Charleston erfolgte auch aus finanziellen Gründen.
Die vom Shareholder Value als wichtigster Priorität geleiteten Boeing-Chefs waren vom Gliedstaat South Carolina mit üppigen Steuernachlässen angelockt worden. Nach seinem Ausscheiden 2017 beschuldigte John Barnett seinen früheren Arbeitgeber, wegen seiner internen Kritik seinen Charakter verunglimpft und seine Karriere behindert zu haben, was Boeing stets bestritt.
«Als Qualitätsmanager bei Boeing bist Du die letzte Bastion, bevor ein Defekt draussen die Fluggäste erreicht», erklärte Barnett in der «New York Times» 2019. «Ich habe noch kein Flugzeug aus Charleston gesehen dem ich mit meinem Namen bescheinigen würde, dass es sicher und flugtauglich ist.» Auch Anfang 2024 äusserte er sich zu den nach dem Zwischenfall mit einer Boeing 737 MAX 9 offenbar gewordenen Problemen bei Boeing – vor genau denen er lange gewarnt hatte.
«Über die Jahre hat die Qualität stets nachgelassen, dies ist kein 737-Problem, dies ist ein Boeing-Problem.» Der Hersteller müsse zurückfinden zum Kern des sauberen Handwerks der Flugzeugmontage. Im Januar erklärte Barnett der Zeitung, dass er wegen seiner Erlebnisse bei Boeing nicht mehr in ein Flugzeug steige.
«Das ist traurig und bricht mein Herz. Ich liebe Boeing, ich liebe wofür Boeing früher stand.» Sein Anwalt hat angekündigt, den für Juni gegen Boeing geplanten Prozess trotzdem und nun im Namen des Nachlasses von John Barnett führen zu wollen.