An der Börse genau richtig ein- und wieder auszusteigen, bleibt für die allermeisten Sparer und Anleger eine Illusion. Von daher sollten sie sich auch von Rekordhochs nicht schrecken lassen.
Nach dem starken Börsenjahr 2023 und dem guten Start 2024 haben amerikanische Leit-Aktienindizes wie der Dow Jones und der S&P 500 sowie der deutsche DAX Rekordhöhen erreicht. Für viele Sparer und Anleger ist das ein Grund zur Freude – aber es macht auch ein bisschen nervös.
Wer also günstig Aktien kaufen und die Titel anschliessend teuer verkaufen möchte, hält sich mit neuen Investitionen derzeit eher zurück. Ein solches Vorgehen ist als «Market Timing» bekannt. Viele Sparer und Anleger hoffen, dass sie beim Investieren an der Börse die richtigen Ein- und Ausstiegszeitpunkte erwischen und so das grosse Geld verdienen.
Doch ist das wirklich eine gute Idee? Es gibt verschiedene Gründe, sich bei einem Allzeithoch nicht von der Börse zu verabschieden oder Aktien zu verkaufen. Dies sind die folgenden:
Rekordhochs sind kein Ausstiegs-Signal
Allzeithochs als Indikator für weitere Allzeithochs: Rekordhochs bei Börsenindizes seien im Allgemeinen sehr gute Indikatoren für weitere Rekordhochs, heisst es in einer Analyse des Fonds-Research-Unternehmens Morningstar. Gerade wenn man langfristig investiert sei, bestehe Anlass für Optimismus, dass jüngst gesehene Allzeithochs nicht die letzten sein würden.
Als Beispiel nennt Morningstar die Zeit ab März 2013, als der S&P 500 zum ersten Mal seit 2008 und nach einem längeren Bärenmarkt wieder ein Rekordhoch erreichte. Dann folgten im Jahr darauf 52 weitere Rekordhochs. Das sei nicht unüblich.
Wie der Vermögensverwalter Schroders in einem Paper ausführt, befinden sich die Börsen auch viel öfter auf einem Allzeithoch, als man dies gemeinhin denken würde. So habe der US-Aktienmarkt in 354 der 1176 Monate seit Januar 1926, also in 30 Prozent der Fälle, ein Allzeithoch erreicht.
Wie die Grossbank UBS in einer Studie ausführt, betrugen zudem die Renditen des S&P 500 in den letzten 60 Jahren über ein, zwei und drei Jahre nach einem Allzeithoch im Durchschnitt 12, 23 und 39 Prozent. Damit seien sie ähnlich hoch gewesen wie in anderen Zeiträumen, in denen es vorher kein Rekordhoch gab.
«Market Timing» funktioniert zumeist nicht: Gerade Privatanleger tun sich zudem sehr schwer damit, die richtigen Ein- und Ausstiegszeitpunkte an der Börse zu finden. Versuchen sie, ihre Rendite mithilfe des genannten «Market Timing» zu verbessern, resultieren zumeist schlechte Ergebnisse. Schliesslich verursachen häufige Käufe und Verkäufe von Aktien an der Börse auch erhebliche Kosten, die zulasten der Netto-Rendite gehen.
Dies ist durch wissenschaftliche Studien belegt. So haben die US-Forscher Geoffrey Friesen und Travis Sapp im Zeitraum 1991 bis 2004 die «Market Timing»-Fähigkeiten von in Aktienfonds investierten Privatanlegern untersucht. Sie kamen dabei zu dem Ergebnis, dass deren Entscheidungen die Netto-Rendite im Schnitt um 1,89 Prozentpunkte pro Jahr reduzierten.
«‹Market Timing› ist die Königsdisziplin der Aktienanlage – verlockend und gefährlich zugleich», sagt Harald Preissler, Kapitalmarkt-Stratege des Vermögensverwalters Bantleon. «Die Crux dabei ist, dass man zweimal richtigliegen muss: beim Ein- und beim Ausstieg.» Mit «Market Timing» sollten sich daher nur Anleger befassen, die über professionelle Systeme verfügen und zudem ein diszipliniertes Risikomanagement verfolgen. «Da dies bei Privatanlegern im Regelfall nicht gegeben ist, raten wir davon ab.»
Die Schroders-Auswertung zeigt, dass es sich in der Vergangenheit nicht gelohnt hat, Aktien zu verkaufen, wenn Börsenindizes ein Rekordhoch erreichten. Wer durchgehend in Aktien investiert blieb, erzielte in Zeiträumen über ein Jahrzehnt oder länger stets höhere Renditen, als wenn er nach einem Allzeithoch in Cash gewechselt wäre. Gerade langfristig macht dies einen sehr grossen Unterschied – wohl vor allem auch deshalb, weil Anleger mit dieser Strategie Börsentage mit hohen Gewinnen verpassten.
Kein Problem bei langfristigen Anlagen: Gerade für langfristige Anleger, die ihre Aktieninvestitionen für mindestens zehn bis zwölf Jahre halten möchten, sollten Allzeithochs kein Problem sein.
Die beste Möglichkeit, Vermögen zu erhalten und zu vermehren, sehen die UBS-Anlageexperten indessen in Anlage-Portfolios mit breiter, ausgewogener Risikostreuung. Ein Portfolio aus 60 Prozent Aktien und 40 Prozent Anleihen hätte beispielsweise seit 1945 in ungefähr 34 Prozent der Zeit auf einem Niveau notiert, auf das es nie wieder gesunken wäre.
Aber es gibt auch Risiken
Die Zeit spricht also für Aktienanlagen, auch wenn die Börse auf Rekordhöhen notiert. Trotzdem sollten sich Sparer und Anleger bei ihren Investitionen nicht blauäugig verhalten. An der Börse hat es auch schon Zeiten gegeben, in denen Anleger sehr lange auf das nächste Allzeithoch warten mussten. Das Extrembeispiel ist die japanische Börse. Dort mussten Anleger sich nach dem Ausbruch der Deflation bis 2024 gedulden, bis der Nikkei 225 sein Rekordhoch von Ende 1989 übersprang.
Ein weiteres Warnsignal ist die derzeitige starke Konzentration mancher Börsenindizes. Preissler weist darauf hin, dass momentan vier Aktien – Meta, Amazon, Microsoft und Nvidia – 20 Prozent der gesamten Marktkapitalisierung des S&P 500 ausmachen. Die grössten zehn Werte kommen auf 30 Prozent. Das habe es in dieser Form noch nie gegeben. Die Konzentration werde durch zwei sich verstärkende Effekte getrieben, sagt Preissler.
Da sei erstens die Erzählung über die künstliche Intelligenz, die viele Anleger von einer Zeitenwende träumen lässt, die auf eine sehr kleine Gruppe von Unternehmen projiziert wird – und besonders stark auf den Halbleiterhersteller Nvidia. Zweitens spiele auch der Trend des passiven Investierens über Indexfonds eine zentrale Rolle. «Die zufliessende Liquidität wird proportional zur Marktkapitalisierung investiert, so dass in die grössten Index-Gewichte das meiste Kapital fliesst», sagt Preissler. Solange der Börsentrend nach oben zeigt, sei diese Momentum-Strategie für die Anleger lukrativ – «aber wehe, wenn der Trend dreht». Dann könnte es zu starken Kursrückschlägen kommen.
Auch Finanzprofessor Erwin Heri sieht in der Konzentration von Börsen-Indizes ein echtes Problem. «Eine vernünftige Diversifikation in vielen Ländern ist nicht mit einem einzelnen Index-Portfolio zu erreichen, sondern durch zusätzliche Anlagen zu bewerkstelligen», sagt er. Als Beispiel nennt er die Ergänzung eines Marktindexes durch einen Index auf die Aktien von kleinen und mittelgrossen Unternehmen.