Hunderttausende Rohingya sind vor der Gewalt in Myanmar in das Nachbarland Bangladesh geflohen. Seitdem harren sie im weltweit grössten Flüchtlingslager aus – Myanmar lässt sie nicht heim, Bangladesh verweigert ihnen die Integration.
Speiseöl, Tüten mit Reis, Linsen und Zucker stapeln sich in Metallregalen. Davor steht ein Verkaufstresen aus Plastikkisten. Mitarbeiter in gelben T-Shirts wuseln umher und reichen die Waren über den Tresen. Kunden warten geduldig, bis sie bedient werden. In einer Ecke steht sogar eine Box, in der sie ihre Beschwerden loswerden können. «Kundenzufriedenheit ist uns sehr wichtig», sagt Mohammed, der heute die Schicht leitet.
Alles soll wie ein ganz normaler Supermarkt aussehen und nicht wie eine Lebensmittelausgabestelle im weltweit grössten Flüchtlingslager im Süden von Bangladesh. Mehr als 960 000 aus ihrem Heimatland Myanmar vertriebene Angehörige der muslimischen Minderheit der Rohingya werden hier über das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) mit dem Nötigsten versorgt.
Lebensmittel für zehn Dollar pro Monat stehen jedem Flüchtling zur Verfügung. Kleinkinder, Schwangere und stillende Frauen bekommen drei Dollar extra für frische Waren wie Obst, Gemüse und Hühnerfleisch. Das reicht zum Überleben – zu mehr aber auch nicht.
Die 21-jährige Zuhura hält ihren E-Voucher, eine Plastikkarte mit Foto, in der Hand, auf der ihre Lebensmittelrationen gespeichert sind. Sie wird durch ein Lesegerät gezogen. Fünf Kilogramm Reis und 250 Gramm Knoblauch hat sie heute «gekauft». Das muss für die vierköpfige Familie für die nächste Woche reichen. Für Gemüse oder Fleisch hat sie kein Geld. Ein Kilogramm Hühnchen kostet 280 Taka (2,50 Dollar). Das ist für viele hier unerschwinglich.
Zuhura, schüchtern und tief verschleiert, hält ihr elf Monate altes Baby auf dem Arm. Vor mehr als sechs Jahren ist sie mit Hunderttausenden Rohingya vor der Gewalt des Militärs in Myanmar zu Fuss über den Grenzfluss Naf nach Bangladesh geflüchtet. Sie musste alles zurücklassen. Zuhura sagt, Verwandte hätten die Flucht nicht überlebt. Dabei dreht sie sich zur Seite und wischt mit der Handfläche ihre Augen. «Wenn Gott will, darf ich bald zurück – eines Tages», sagt sie leise. Es ist diese Hoffnung, die die meisten Rohingya hegen. Sie wollen zurück in den Bundesstaat Rakhine in Myanmar, wo sie seit Jahrhunderten lebten.
Verfolgung und Gewalt zwangen Rohingya zur Flucht
Aber das Militärregime im mehrheitlich buddhistischen Myanmar erlaubt den muslimischen Flüchtlingen keine Rückkehr, betrachtet sie als illegale Einwanderer. Gemäss einem 1982 in Myanmar erlassenen Gesetz sind die Rohingya staatenlos, ihr Besitz wurde beschlagnahmt oder zerstört. Bangladesh will die vielen Flüchtlinge so schnell wie möglich loswerden und verweigert ihnen eine Integration. Die Rohingya gelten als die am meisten verfolgte Minderheit weltweit.
2017 eskalierte die Gewalt. Rohingya-Rebellen der islamistischen Arakan-Armee griffen Polizeistützpunkte und Kasernen an. Das Militär antwortete mit unfassbaren Greueltaten: Es ermordete Tausende Menschen, brandschatzte und vergewaltigte Frauen. Die Vereinten Nationen sprechen von einem andauernden Völkermord.
Rund eine Stunde südöstlich von der Stadt Cox’s Bazar entstand ein riesiges Flüchtlingslager, das mit Stacheldraht umzäunt ist. Wer rein- oder rauswill, muss Checkpoints der bangalischen Sicherheitskräfte passieren. Offiziell dürfen die Rohingya das Lager nur mit Sondergenehmigungen verlassen.
«Wir leben wie Gefangene», sagte der Blogger und Aktivist Nay San Lwin, der selbst im Exil lebt. Die Rohingya wollten zurück in ihre Heimatdörfer, aber mit allen Rechten. Auch Lwin weiss, dass solch eine Heimkehr derzeit unmöglich ist. Die Kämpfe zwischen der Arakan-Armee und der Militärjunta in Myanmar haben in den vergangenen Wochen zugenommen. «Der Gliedstaat Rakhine ist zu einem Schlachtfeld für die Rohingya geworden», sagt er.
Hütten aus zerfledderten Plastikplanen und Bambus reihen sich aneinander, dazwischen schlängeln sich enge staubige Gassen. Während der Regenzeit versinkt das Camp regelmässig im Schlamm. Die Regierung von Bangladesh erlaubt keine festen Gebäude und gepflasterten Wege. Alles soll provisorisch bleiben und ja nicht den Eindruck erwecken, dass Menschen sich hier dauerhaft niederlassen, so ihre Argumentation.
Nur zehn Dollar für Lebensmittel
Im März vergangenen Jahres musste das Welternährungsprogramm wegen fehlender Finanzierung den Wert der Nahrungsmittelgutscheine von zwölf auf acht Dollar pro Person kürzen. Die Folgen sind dramatisch. In diesem Jahr konnte die Ration zumindest wieder auf zehn Dollar heraufgesetzt werden, das sind rund elf Cent pro Mahlzeit.
Die Unterernährung habe spürbar zugenommen, sagt die Ärztin Jennifer Stella, die im Camp für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen arbeitet. 40 Prozent der Kinder seien zu klein für ihr Alter. «Wenn wir mit den Menschen sprechen, spüren wir ihre völlige Verzweiflung», sagt sie. Sie seien komplett von internationaler Hilfe abhängig, und die Kinder bekämen keine angemessene Bildung. Posttraumatische Störungen, Angstzustände und Depressionen hätten dramatisch zugenommen. «Medizinisch können wir nur sehr wenig tun», sagt Stella.
Entlang der zentralen Wege in dem unübersichtlichen Flüchtlingscamp sind auf dem Boden Planen ausgebreitet. Flüchtlinge verkaufen hier gebrauchte Kleidung und selbst angebautes Gemüse. Die Regierung von Bangladesh hat den Rohingya verboten zu arbeiten, der Markt wird aber geduldet – oft gegen Schmiergeldzahlungen an die Sicherheitskräfte.
Wie ein Spinnennetz zweigen von der Hauptstrasse enge Wege ab. Sie führen entlang an Hütten, fauligen Abfallbergen und von den Hilfsorganisationen aufgestellten Toilettenhäusern, vor denen sich Schlangen bilden. Die wenigen Pflanzen sind von einer Staubschicht bedeckt. Frauen eilen tief verschleiert mit meist barfüssigen Kindern an der Hand durch die Gassen – den Blick gesenkt. Die muslimische Gemeinschaft der Rohingya ist streng konservativ.
Bangladesh erlaubt keine Schulen für die Flüchtlinge
Der verschlungene Weg führt zu einer von Unicef betriebenen Schule mit zwei Klassenräumen. Die Hilfsorganisationen sprechen von Lern-Centern, denn offiziell dürfen die Flüchtlingskinder nicht zur Schule gehen. «Es ist nicht unser Mandat, Menschen aus anderen Ländern zu unterrichten», so heisst es dazu von der Regierung in Dhaka. Es war ein langer Kampf, bis die Kinder zumindest in der Grundschule unterrichtet werden durften. Der Unterricht erfolgt in ihrer Muttersprache Rohingya nach dem Lehrplan aus Myanmar.
Dreissig Kinder sitzen konzentriert auf bunten Decken, vor ihnen ein kleiner Plastikhocker mit einem Buch. Der Lehrer Sayed Amin erzählt, wie gern die Kinder zum Unterricht kämen, wie begierig sie darauf seien, zu lernen. Es sei eine Abwechslung in dem trostlosen Alltag, sagt er. «Hier können sie für einen Moment unbeschwert sein», sagt der 31-Jährige, während er das Schulessen – Energieriegel gegen den Hunger – verteilt. Die Verpackung ist bereits geöffnet. «Der Riegel ist für die Kinder, sie sollen ihn nicht mit nach Hause nehmen», sagt der Lehrer bestimmt. Es gab schon Fälle, da wurden die Riegel weiterverkauft. Das soll so verhindert werden.
Etwa die Hälfte der Kinder von sieben bis elf Jahren sind Mädchen, auch darauf ist Sayed Amin stolz. Wenn sie in die Pubertät kommen, erlauben viele Eltern ihren Töchtern nicht mehr den Schulbesuch. Sie dürfen nicht mehr allein die Hütte verlassen oder zusammen mit Jungs in einer Klasse sein.
Sayed Amin erzählt, wie die Lehrer in mühevollen Gesprächen versuchen, die Eltern zu überzeugen – immer wieder. Die Lehrer organisieren Freiwillige, die die Mädchen auf dem Weg zur Schule begleiten und wieder zurückbringen. Sie gehen in Moscheen und bitten den Imam, seinen Einfluss geltend zu machen. «Ganz langsam ändert sich die Mentalität», meint der Lehrer. Viele Familien verstünden, wie wichtig Bildung für die Zukunft der Kinder sei. Geschätzt etwa 70 Prozent der Rohingya sind Analphabeten.
Aber auch aus Angst vor Belästigungen und sexueller Gewalt werden die Mädchen zu Hause gehalten. Eltern befürchten, dass ihre Kinder verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden. Das kommt in dem Lager immer häufiger vor.
Drogengangs tyrannisieren die Bewohner des Camps
Das Camp ist in den vergangenen Jahren ein noch unsicherer Ort geworden, besonders nach Anbruch der Dunkelheit, wenn alle Mitarbeiter von Hilfsorganisationen das Lager verlassen haben. Die Arakan-Armee und mindestens elf weitere kriminelle Gruppen kämpfen um die Vorherrschaft in dem weit verzweigten Flüchtlingslager.
Die Arakan-Armee kontrolliert den Handel mit der synthetischen Droge Yaba, die in Myanmar hergestellt und über die Grenze geschmuggelt wird. Die Droge ist weit verbreitet und wird in ganz Bangladesh konsumiert. Junge Rohingya werden in dem Camp gezwungen, für die Gangs zu arbeiten. Die finanzielle Not und eine fehlende Perspektive treiben sie in die Arme der Banden.
Eine junge Rohingya-Frau berichtet, wie die Menschen von den Gangs tyrannisiert werden. Den Namen der Arakan-Armee spricht sie nicht aus, sagt nur leise «die nächtliche Regierung». Nur zum Wasserholen und wenn sie in den Waschraum wolle, verlasse sie ihr Zuhause, sagt die Zwanzigjährige. Nachts würden Gangmitglieder in die Hütten eindringen und junge Mädchen und Frauen belästigen. «Es gibt keinen sicheren Ort für uns, nirgends», meint sie traurig. Wie sich Freiheit anfühlt, wisse sie nicht. «Das habe ich noch nie erlebt.» Jede Nacht seien Schüsse zu hören, sagt die junge Rohingya-Frau, die aus Angst ihren Namen nicht nennen will. Gefragt nach ihren Träumen, schaut sie lange zu Boden.
Welche Hoffnung gibt es für die verzweifelten Menschen in dem weltweit grössten Flüchtlingslager? Der Staatsminister für Rundfunk und Information in Bangladesh, Mohammad Arafat, ist eindeutig: «Die Regierung in Bangladesh hat keine Absicht, diese Menschen zu integrieren», sagt er. Die Rohingya müssten zurück in ihr Heimatland, das wollten sie schliesslich ja auch. «Das Problem ist, es ist im Moment nicht sicher», gibt er zu.
In seinem Büro in einem Plattenbau aus den siebziger Jahren flackern Bildschirme mit TV-Sendern aus ganz Asien, während Arafat die Regierungslinie propagiert. Die westlichen Länder fordert er auf, mehr Druck auf das Regime in Myanmar auszuüben. Länder mit geringer Bevölkerungsdichte und viel Land wie Kanada oder Australien sollten einen Teil der Flüchtlinge aufnehmen, verlangt er.
Das heisst aber auch: Für die Rohingya ist kein baldiger Ausweg in Sicht. Sie sitzen politisch zwischen allen Fronten und bleiben Gefangene in einem Land, das sie nicht will. Dafür bezahlen sie mit Perspektivlosigkeit und werden in Abhängigkeit von Hilfsgeldern gehalten. Die internationale Gemeinschaft hat viel zu lange weggeschaut.








