Der russische Präsident benutzt den unglaubwürdigen Erdrutschsieg bei angeblich rekordhoher Wahlbeteiligung als Beweis dafür, dass die Gesellschaft in schweren Zeiten geschlossen hinter ihm steht.
Der Rote Platz in Moskau war am Montagabend voll, über der Bühne stand «Krim und Sewastopol zehn Jahre im heimatlichen Hafen», es traten einschlägig bekannte Rock- und Pop-Gruppen auf. In den hellsten Farben malte das Moderatorenpaar das Glück, das Russland durch die Einverleibung der ukrainischen Halbinsel Krim widerfahren sei, und es pries den Zusammenhalt, den die Russen mit der überragenden Wiederwahl ihres Präsidenten gezeigt hätten.
Jubel brandete aber erst auf, als Wladimir Putin die Bühne betrat. Er erinnerte nicht nur an die Annexion der Krim vor genau zehn Jahren, sondern auch daran, dass nun «Noworossija» und der Donbass – die besetzten Gebiete im Osten und Südosten der Ukraine – zu Russland gehörten. Und er brachte seine drei Pseudoherausforderer bei der Präsidentenwahl mit auf die Bühne: Sie hätten unterschiedliche Herangehensweisen, aber arbeiteten auch für das Wohl Russlands, erklärte er. Die drei revanchierten sich mit Lobhudeleien.
Der Rückhalt ist kleiner
Das Konzert und die Wahl weisen eine Gemeinsamkeit auf, die den Kreml nicht ehrt: Der Grad der Unterstützung ist nicht so umfassend und echt, wie es den Anschein macht. Noch bis wenige Tage vor der Veranstaltung auf dem Roten Platz zirkulierten Aufrufe, mit denen vor allem Studenten zur Teilnahme ermuntert wurden. Es lockten ein studienfreier Tag, eine kleine Geldprämie, mitunter gar Erleichterungen in Prüfungen. Der Kontrast zu den Verwarnungen und Verboten, die Universitäten vor dem Begräbnis Alexei Nawalnys verbreitet hatten, hätte nicht grösser sein können.
Auf tönernen Füssen steht auch Putins sagenhafter Erdrutschsieg, den das Regime wegen der höher denn je ausgefallenen Wahlbeteiligung von 77,44 Prozent als Ausdruck einer fast totalen Geschlossenheit der Gesellschaft feiert. Eine Mehrheit der Bevölkerung dürfte, Krieg, Sanktionen und Repression zum Trotz, nach wie vor hinter ihm stehen. Die Unterstützung rührt aber auch daher, dass es aus Sicht der Wähler keine Alternative gab. Trägheit, Konformismus und Opportunismus sowie das Unvermögen, die mitunter trostlose Lebenswirklichkeit in Zusammenhang mit der Verantwortung des Präsidenten zu stellen, machen einen erheblichen Teil von Putins Rückhalt aus.
Vielzahl an Verstössen
Die unabhängigen Wahlanalytiker der vom russischen Staat verfolgten Organisation Golos nennen die Wahl eine Imitation. Durch die Zensurgesetze der vergangenen Jahre, den Krieg und die Repression gebe es gar keine für einen demokratischen Prozess notwendige Möglichkeit zur Diskussion.
Viele Wähler standen unter präzedenzlosem Druck vonseiten der Arbeitgeber, an der Wahl teilzunehmen und «richtig» zu wählen. Golos verwies in einem kurzen Bericht am Montag auch auf die gesetzliche Intransparenz des Wahlprozesses und auf zahllose Verstösse gegen das Wahlgeheimnis. Sicherheitskräfte begründeten diese damit, dass Wähler zuweilen Beleidigungen und politische Statements auf die Wahlzettel geschrieben hätten.
Zahllose Verstösse dürften unentdeckt geblieben sein, weil Parteien unter Druck darauf verzichteten, Wahlbeobachter zu nominieren. Von den wenigen, die doch zugelassen wurden, waren etliche Einschüchterung und Gewalt ausgesetzt. Eindeutig gefälscht wurde früher vor allem in einzelnen dafür bekannten Regionen. Die jetzt übers ganze Land auffällig gleich verteilte Zustimmung zu Putin und die passenden Ergebnisse der offiziösen Nachwahlbefragungen lassen den Schluss zu, dass sich die Wahlkommissionen an Vorgaben orientierten. Nicht wenige Beobachter sehen in dem Wahlergebnis von fast 90 Prozent einen Dammbruch: die totale Gleichgültigkeit gegenüber demokratischen Prozeduren zwecks Machterhalt.
Stilisierung zum Vorbild
Die 87,28 Prozent sind deshalb ein Trugbild. Die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, die einstige liberale Politikerin und Menschenrechtsbeauftragte Ella Pamfilowa, drehte den Spiess allerdings um. Sie beschuldigte westliche Kommentatoren und Politiker, ein Zerrbild von Russlands Wahlen zu zeichnen, um dem Land zu schaden. Jeder, der das russische Volk kenne, wisse, dass dieses keine Druckversuche dulde, weder im Innern noch von aussen. Es verteidige mit Stolz seine Rechte. Das Land sei frei und demokratisch, während es um die demokratischen Werte im Westen schlecht stehe. Das wirkte geradezu karikaturhaft verzerrt.
Ähnlich äusserte sich aber auch Putin Sonntagnacht vor seinem Wahlkampfteam und Medienvertretern. Die Selbstgewissheit, die das Regime aus dem trügerischen Wahlergebnis zieht, hat potenziell weitreichende Konsequenzen: Putin und sein Regime fühlen sich nun in ihrem Handeln bestätigt und frei, Militarismus, «Patriotismus» und antiwestlichem, illiberalem Denken rücksichtslos zum Durchbruch zu verhelfen. Auch die weltpolitischen Ambitionen wird das betreffen.
Putins Auftritt war von einem aggressiven Unterton begleitet, in dem sich diese Selbstgewissheit spiegelte. Plötzlich fiel es ihm leicht, auch Nawalnys Namen auszusprechen. Dessen Tod sei natürlich bedauerlich, sagte er auf die Frage eines amerikanischen Journalisten. Aber so sei es halt im Leben. In amerikanischen Gefängnissen stürben auch Menschen.
Heikle Fehlschlüsse
Das Selbstbewusstsein könnte das Regime aber auch dazu verleiten, Entscheidungen zu treffen, die im Volk keinen Rückhalt haben, obwohl das Wahlresultat dies suggeriert. Dazu gehört ein Hineinziehen immer breiterer Bevölkerungsschichten in den Krieg. Soziologische Studien, selbst von staatsnahen Instituten, zeigen einen Bedarf nach Normalisierung. Auch das zum Teil sehr gute Abschneiden in städtischen Wahllokalen von Wladislaw Dawankow, dem einzigen Kandidaten, der dafür einstand, spricht dafür.
Putins vermeintlicher Triumph verleiht dem Regime Flügel. Er kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Krieg gegen die Ukraine zwar mitgetragen wird, aber nicht populär ist. Das macht das Regime noch unberechenbarer, fragiler – und bedrohlicher nach innen und aussen.








