Der Luftkrieg der Nato 1999 brachte Kosovo die Unabhängigkeit, doch die Intervention hat die Bevölkerung nicht geschützt.
Am 24. März 1999 stiegen nach Sonnenuntergang Kampfflugzeuge der Nato vom norditalienischen Militärflugplatz Aviano auf und nahmen Kurs nach Südost. Die F/A-18 der spanischen Luftwaffe erreichten Belgrad zuerst und griffen die Flugabwehr in der serbischen Hauptstadt an. Zur gleichen Zeit feuerten amerikanischen Kriegsschiffe in der Adria Tomahawk-Marschflugkörper auf Ziele in Serbien.
Der erste Krieg der Nato ausserhalb des Bündnisgebietes hatte begonnen. Aber es war kein gewöhnlicher Krieg. Seine Befürworter sprachen von einer «humanitären Intervention» mit dem Ziel, die gewaltsame Unterdrückung der Kosovaren durch das Regime von Slobodan Milosevic zu beenden. Die Idee für einen «regime change» in Belgrad lag auch in der Luft.
Schon nach kurzer Zeit gingen der Nato die militärischen Ziele in Serbien aus. Weil Milosevic aber nicht nachgab, nahm sie jetzt die zivile Infrastruktur ins Visier: Elektrizitätswerke, Industrieanlagen, Auto- und Eisenbahnbrücken, aber auch Verwaltungsgebäude und das Belgrader Fernsehstudio wurden zerbombt. Bis zum Ende des Krieges am 12. Juni flog das Bündnis 38 000 Einsätze, den weitaus grössten Anteil übernahmen die Amerikaner.
Eine historische Ausnahmesituation
25 Jahre später klingt der Begriff der «humanitären Intervention» seltsam fremd. Und tatsächlich, er stammt aus einem anderen Zeitalter. Eine besondere historische Konstellation war die Voraussetzung für diesen Krieg. Sie lässt sich auf drei Punkte reduzieren:
1. Die weltpolitische Dominanz der USA nach dem Kalten Krieg. 2. Der ideologische Einfluss der 68er Generation in Medien und Politik. 3. Die Warnzeichen der Genozide in Rwanda und in Bosnien 1994 und 1995.
1. Zu Beginn der neunziger Jahre war die Sowjetunion Geschichte. Russland lag wirtschaftlich am Boden, und Chinas Aufstieg hatte erst begonnen. Die USA waren als Siegerin des Kalten Krieges die «übrig gebliebene Supermacht». Hellsichtig bezeichnete der konservative amerikanische Publizist Charles Krauthammer 1990 die anbrechende Periode als «unipolaren Moment». Als einen Zeitabschnitt, wie er ausführte, in dem die Dominanz der USA und ihrer westlichen Verbündeten unbestreitbar sei. Doch das bedeute nicht Frieden. Die Supermacht, so Krauthammer, werde herausgefordert von kleinen, aggressiven Staaten, die mit Massenvernichtungswaffen drohten. Amerika müsse bereit sein, dagegen zu intervenieren.
2. Einen neuen Willen zum Interventionismus gab es auch bei der Linken. Aus desillusionierten 68ern, die gegen den Krieg in Vietnam und den Kolonialismus protestiert hatten, waren in den achtziger Jahren Aktivisten für die Menschenrechte geworden. Nicht die Solidarität mit dem Befreiungskampf der Ausgebeuteten, sondern der Schutz der Opfer von Menschenrechtsverletzungen war jetzt das Leitmotiv.
Ein Pionier war Bernard Kouchner. Der vormalige Kommunist gründete in den siebziger und achtziger Jahren «Ärzte ohne Grenzen» und andere medizinische Hilfsorganisationen. Doch er wollte nicht nur den Notleidenden helfen, sondern sich in den Meinungskampf einmischen. Denn Menschenrechtsverletzungen, so der mediengewandte «French doctor», stünden immer am Anfang von humanitären Katastrophen. Ende der achtziger Jahre entwickelte Kouchner das Konzept des «droit d’ingérence humanitaire» – des Rechts auf humanitäre Einmischung.
Die Souveränität eines Staates sei nicht absolut, argumentierten Kouchner und seine Mitstreiter. Bei schweren Menschenrechtsverletzungen in einem Land gebe es für Aussenstehende ein Recht, einzugreifen. Im Verlauf der neunziger Jahre übernahmen viele westliche Leitmedien diese Sicht. Aber auch Mitte-links-Politiker, die in diesen Jahren an die Macht kamen, zeigten sich offen dafür: der amerikanische Präsident Bill Clinton (1993), der britische Premierminister Tony Blair (1997) oder der deutsche Aussenminister Joschka Fischer (1998).
3. Die Massenmorde in Rwanda 1994 (mit über 500 000 Toten) und im bosnischen Srebrenica 1995 (8000 Tote) lösten vielerorts Schrecken und Empörung aus. Der Westen, so schrieben die Leitartikler, müsse in Zukunft «etwas tun», um solche Verbrechen zu verhindern. Clinton nahm das auf und sagte Anfang 1999 in einer Rede: «Ob in Afrika oder Mitteleuropa, wenn jemand massenhaft Menschen tötet wegen ihrer Rasse oder Religion, werden wir das stoppen – wenn wir die Macht dazu haben.» Das klang wie ein Versprechen, aber auch wie eine Drohung. Das Trauerspiel im zerfallenden Jugoslawien, wo machtlose europäische Emissäre weder Krieg noch Massaker verhindern konnten, sollte sich nicht wiederholen. Srebrenica war eine Art Auslöser für die Intervention in Kosovo.
Bombardierungen und «ethnische Säuberungen»
Dort hatte sich die Lage seit 1998 verschlimmert. Die Kämpfe zwischen der UCK-Guerilla und den serbischen Sicherheitskräften waren eskaliert. Die Serben gingen immer rücksichtsloser gegen die kosovarische Zivilbevölkerung vor. Eine Viertelmillion Menschen waren im Land vertrieben, unzählige Dörfer abgebrannt.
Nach einem Massaker im Dorf Racak im Januar 1999, bei dem serbische Polizisten 40 Zivilisten getötet hatten, beriefen die Westmächte im französischen Rambouillet eine letzte Verhandlungsrunde ein. Dann stellten sie Belgrad das Ultimatum: Kosovo wird ein von der Nato gesichertes Protektorat, oder es gibt Krieg. Milosevic lehnte ab. Am 24. März gaben der Nato-Generalsekretär Javier Solana und der amerikanische General Wesley Clark als Oberbefehlshaber der Allianz den Befehl zum Angriff.
Die Operation Allied Force hatte drei Ziele: Die Kosovaren sollten vor weiteren Übergriffen geschützt, die serbischen Truppen zum Abzug gezwungen und eine internationale Truppe auf dem Territorium stationiert werden. Zwei der Ziele wurden erreicht. Am 12. Juni begann der Abzug der serbischen Kräfte aus Kosovo. Der Krieg war zu Ende. Erst jetzt marschierten Nato-Truppen aus Mazedonien ein und besetzten – von den Kosovaren begeistert begrüsst – die serbische Südprovinz.
Doch beim Schutz der Zivilbevölkerung, dem ersten Ziel, versagte die Nato. In den Monaten vor der Intervention waren wöchentlich im Durchschnitt 35 kosovarische Zivilisten getötet worden. Doch während der zweieinhalbmonatigen Militäroperation stieg die durchschnittliche Opferzahl auf 820 Personen pro Woche. Das hatte unmittelbar mit der Kriegsführung der Nato zu tun.
Das Bündnis verzichtete auf den Einsatz von Bodentruppen. Man fürchtete, dass die politische Unterstützung für den Krieg bei eigenen Verlusten schnell abnehmen würde. So entschied sich die Nato für einen Luftkrieg, der aus grosser Höhe geführt wurde. Das hatte zwar zur Folge, dass kein einziger Nato-Soldat durch Kampfhandlungen ums Leben kam. Aber am Boden hatten die serbischen Truppen freie Hand, um eine maximale Zahl von Zivilisten zu vertreiben.
Es begann eine brutale «ethnische Säuberung», begleitet von Massakern. 800 000 Kosovaren flohen nach Mazedonien und Albanien. Nach der serbischen Kapitulation kehrten die meisten Kosovaren noch im Sommer zurück. Der Schutz von Zivilisten funktionierte allerdings auch nach dem Einmarsch der Nato schlecht: Viele Serben und Roma wurden jetzt Opfer kosovarischer Racheakte. Im Krieg waren etwa 10 000 Menschen auf kosovarischer Seite ums Leben gekommen, auf der serbischen Seite waren es 2000. Die Bombardierungen der Nato töteten in Serbien 500 Zivilisten.
Milosevic hatte aufgegeben, weil die wirtschaftlichen Schäden durch die Bombardierungen immer katastrophaler wurden und weil ihn schliesslich auch die Russen zur Kapitulation drängten. Zwar protestierten sie – genau wie die Chinesen – gegen den Angriff der Nato und die Verletzung serbischer Souveränität und territorialer Integrität. Doch sie hatten dem Westen nichts entgegenzusetzen. Was ihnen blieb, war die Weigerung, der Intervention das Plazet im Sicherheitsrat zu geben. Ohne Uno-Mandat verstiess die Nato mit ihrer Intervention gegen das Völkerrecht.
Die «Schutzverpflichtung» und ihr Ende
Vielen Zeitgenossen erschien das Eingreifen in Kosovo als ein Wendepunkt. Tony Blair stilisierte es zu einem Moment, in dem erstmals Werte und nicht Interessen das Handeln der Staatengemeinschaft anleiteten. Das wirkte schon damals unglaubwürdig. Aber es gab einflussreiche Kreise um den damaligen Uno-Generalsekretär Kofi Annan, die ernsthaft eine neue Balance zwischen staatlicher Souveränität und der Pflicht zum Schutz der Bevölkerung suchten. Der Zeitgeist um die Jahrtausendwende sprach dafür.
So entstand, nach Vorarbeiten einer kanadischen Kommission, die «Schutzverpflichtung» («responsibility to protect») als eine nicht bindende Norm des Völkerrechts. Sie besagt: Wenn ein Staat nicht in der Lage oder willens ist, seine Bevölkerung vor Genozid, ethnischer Säuberung oder anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen, dann hat die Staatengemeinschaft das Recht, schützend einzugreifen – notfalls auch militärisch. Allerdings müssen diese Massnahmen vom Uno-Sicherheitsrat genehmigt werden. Die Schutzverpflichtung wurde 2005 vom Uno-Weltgipfel verabschiedet.
Doch die neue Norm fand ihr faktisches Ende bereits sechs Jahre später. Als im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 in Libyen ein Bürgerkrieg ausbrach, wurden Forderungen nach einer Flugverbotszone im Land laut. Die Arabische Liga und westliche Staaten fürchteten, der Diktator Muammar Ghadhafi werde ein Massaker an der eigenen Bevölkerung anrichten. In den Uno-Debatten bezogen sich die Befürworter einer Intervention ausdrücklich auf die Schutzverantwortung.
Der Sicherheitsrat gab im März grünes Licht, nachdem Russland und China darauf verzichtet hatten, ihr Veto einzulegen. Was folgte, war eine gemeinsame Intervention der Briten, Franzosen und Amerikaner unter Nato-Kommando. Die Alliierten flogen Luftangriffe gegen Ghadhafis Truppen und setzten Spezialkräfte auf Seite der Rebellen ein. Schliesslich wurde der Diktator von Aufständischen getötet. Ein Regimewechsel hatte stattgefunden – doch der Bürgerkrieg ging weiter.
Seither wird die Norm der Schutzverantwortung fast nur noch als Vorwand für den Einmarsch auf fremdes Territorium verwendet. Präsident Putin bezog sich schon 2008 auf den «Präzedenzfall Kosovo», als er Truppen nach Georgien zur Unterstützung der Separatisten in Südossetien schickte. Auch den Angriff auf die Ukraine und die Besetzung der Krim 2014 begründete der Kreml mit dem «Schutz der Bevölkerung vor den Faschisten in Kiew».
Die «humanitäre Intervention» als Massnahme des Völkerrechts ist verschwunden, weil der unipolare Moment vorbei ist. Seit zehn Jahren wächst die Rivalität zwischen den Grossmächten, die sich gegenseitig misstrauisch belauern. Mittelmächte wie Indien, Saudiarabien oder die Türkei rüsten massiv auf. Die Uno ist als Weltorganisation machtlos wie selten, und der Sicherheitsrat ist blockiert.
Doch auch 1999, nach dem Ende der Kosovo-Intervention, wuchsen die Bäume nicht in den Himmel. Bernard Kouchner, der Avantgardist des militanten Humanitarismus, war auf französischen Vorschlag der erste Chef der Uno-Mission in Kosovo. Er sollte dort eine Verwaltung aufbauen und den Rechtsstaat etablieren. Doch diese Aufgabe lag ihm nicht. Schon nach anderthalb Jahren flog er zurück nach Paris.
Kosovo erklärte sich 2008 unabhängig von Serbien. Das ehemalige Mutterland weigert sich bis heute, das zu akzeptieren. Von den Uno-Mitgliedstaaten anerkennen etwas mehr als die Hälfte den jüngsten Staat Europas. Der Krieg um Kosovo endete vor 25 Jahren, doch von einem echten Frieden sind die beiden Nachbarn so weit entfernt wie je.