Geschichten, die nur die direkte Demokratie schreiben kann: als die FDP die Bundeskanzlei bat, bis 21 Uhr zu arbeiten, damit sie ihre Initiative gegen Bürokratie einreichen kann.
Volksinitiativen verändern die Schweiz. Dass die Freisinnigen durch die Proporzwahl ihre politische Vormachtstellung verloren haben; dass der Bundesrat sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg das Vollmachtenregime endlich beendete; dass der Bau von Zweitwohnungen, die Zahl der Lastwagen und – zumindest theoretisch – die Zuwanderung limitiert wurden; dass bald die Renten erhöht werden: All dies waren und sind Folgen von Volksinitiativen.
Dieses ganz besondere Volksrecht der Verfassungsinitiative bewirkt jedoch nicht nur regelmässig grosse Veränderungen, sondern auch enormen Stress. Zum einen für das politische System. Zum anderen aber auch – und das wird seltener thematisiert – für die Initianten selbst. Davon können zurzeit die Leute der Mitte-Partei ein Lied singen. Sie wollen am Mittwoch zwei Volksinitiativen gegen die «Heiratsstrafe» einreichen, waren aber noch letzte Woche nicht ganz sicher, ob es wirklich klappt – ob sie wirklich genügend beglaubigte Unterschriften beisammenhaben.
Es klingt so einfach: Wer eine Initiative einreichen will, um die Schweiz oder zumindest die Bundesverfassung zu verändern, muss innert 18 Monaten 100 000 Unterschriften sammeln. So lernen es die Kinder in der Schule, so steht es in der Verfassung. 100 000 Unterschriften – ist das nun viel oder wenig? Kritiker finden, die Zahl müsste längst erhöht werden, weil die Bevölkerung stark gewachsen ist. Eingeführt wurde das heutige Quorum 1976 im Nachgang zur Einführung des Frauenstimmrechts (das, nebenbei bemerkt, bezeichnenderweise nicht auf eine Volksinitiative zurückzuführen ist, sondern auf eine Vorlage des Bundesrats).
Unzimperliche Methoden der SVP
Trotzdem ist nicht zu erwarten, dass die Zahl der Unterschriften in absehbarer Zeit erhöht wird. Das liefe auf eine Einschränkung der Volksrechte hinaus, was nie populär ist. Und tatsächlich bekunden Parteien, Verbände und Komitees immer wieder Mühe damit, genügend Unterschriften für Initiativen oder Referenden zusammenzubringen. Das gilt sogar für kampferprobte Organisationen wie die SVP, die letztes Jahr zu unzimperlichen Methoden griff, um die eigenen Leute zu «motivieren»: Jeder National- und Ständerat musste in kurzer Zeit 150 Unterschriften bringen – für jede fehlende wurde eine Busse von 10 Franken fällig.
Die Liste der Volksinitiativen, die bereits im Sammelstadium gescheitert sind, ist beeindruckend. Seit der Einführung 1891 mussten 145 Begehren vorzeitig abgebrochen werden. Damit ist mehr als jede vierte Initiative lange vor der erhofften Volksabstimmung auf dem endlos grossen Friedhof der politischen Ideen und Visionen gelandet. Gleichzeitig wurden 108 Initiativen zurückgezogen, was oft auf einen Teilerfolg in Form eines Gegenvorschlags hindeutet. Tatsächlich angenommen wurden lediglich 26 Initiativen.
Die Bundeskanzlei als Hüterin über die Volksrechte führt akribisch Buch über alle lancierten, eingereichten, gescheiterten, zurückgezogenen und angenommenen Initiativen. Bei den Begehren, die in jüngerer Zeit vorzeitig gescheitert sind, geht es thematisch um praktisch alles: Die Palette reicht vom Schutz gegen Mobilfunkstrahlung über bessere Arbeitsbedingungen für Chauffeure und ein bedingungsloses Grundeinkommen bis hin zu einer nicht näher definierten Totalrevision der Bundesverfassung.
Mit einer einzigen Unterschrift eingereicht
Auf der Liste figurieren auch originelle bis kuriose Ideen. Dazu gehören zum Beispiel Volksbegehren wie «7500 Franken an jede Person mit Schweizer Bürgerrecht», «Zur Abschaffung der Sommerzeit», «Höchstgeschwindigkeit 140 km/h auf Autobahnen», «Für eine Schweizer Armee mit Tieren (Brieftaubeninitiative)» oder die «Jagdabschaffungsinitiative».
Für maximales Aufsehen im In- und Ausland hat jedoch eine andere Initiative gesorgt: Sie verlangte die Einführung der «Todesstrafe bei Mord mit sexuellem Missbrauch», und ihr frühes Scheitern 2012 hat dem Land eine schwierige Debatte erspart.
Allerdings zeigt gerade dieses Beispiel, dass es gar nicht so einfach ist, eine Volksinitiative vorzeitig zu beerdigen, sobald sie einmal im Bundesblatt veröffentlicht worden ist. Im Fall der Todesstrafe erklärten die Initianten schon nach wenigen Wochen, es sei ihnen nur darum gegangen, die Öffentlichkeit aufzurütteln. Sie wollten das Begehren gleich wieder zurückziehen. Trotzdem lebte die Initiative weiter. Erst als anderthalb Jahre später die Sammelfrist ungenutzt verstrichen war, konnte der Bund die Initiative offiziell für gescheitert erklären.
Nicht alle wollen so lange warten, um eine unliebsam gewordene Initiative aus der Welt zu schaffen. Deshalb hat sich eine zweite Methode eingebürgert: Man reiche seine Initiative mit einer einzigen Unterschrift ein, worauf die Bundeskanzlei unkompliziert das Scheitern feststellen und das Begehren von der Traktandenliste streichen kann. So verfuhren jüngst die Gewerkschaften, nachdem ihr Plan, Gewinne der Nationalbank in die AHV umzuleiten, von der ökonomischen Realität zerzaust worden war.
Überstunden wegen der FDP
Dann gibt es jedoch auch die anderen Fälle, in denen Komitees förmlich bis zur letzten Minute kämpfen und rennen, um die 100 000 Unterschriften rechtzeitig einreichen zu können. Spektakulär ist das Beispiel der «Bürokratie-Stopp-Initiative» der FDP von 2010. Zuvor hatte die SVP demonstriert, dass man mit Initiativen Themen setzen und Wahlen gewinnen kann. Nun wollte der Freisinn, der als ehemals staatstragende Partei mit dem Initiativrecht lange gefremdelt hatte, dasselbe versuchen. Die Wahlen 2011 endeten für die FDP dennoch mit einem Minus von 0,7 Prozentpunkten.
Als wäre das nicht genug, musste die Parteispitze wenig später auch noch feststellen, dass es mit der Initiative, dem vermeintlichen Wahlkampfvehikel, schwierig wird. Die Unterschriftensammlung harzte, die Koordination war schwierig. Die Sammelfrist endete am 12. April 2012. Einen Tag zuvor sah sich die FDP-Zentrale zu einem ungewöhnlichen Schritt veranlasst: Sie bat die Bundeskanzlei (BK), die Unterschriften am Stichtag statt wie üblich vor Ende der Büroöffnungszeiten erst um 21 Uhr einreichen zu dürfen. Ein heikles Anliegen, muss doch der Bund alle gleich behandeln.
Die zuständige Sektionsleiterin, eine Freisinnige, trat sofort in den Ausstand. Die damalige Bundeskanzlerin Corina Casanova (CVP, heute Die Mitte) genehmigte das Gesuch der FDP. Da aber die Sektionsleiterin im Ausstand war und sich abzeichnete, dass der Fall kompliziert wird, zog man für die anstehenden Arbeiten ihren parteipolitisch offenbar unverdächtigen Vorgänger bei. Alles in allem erreichte die Initiative für den Abbau der Bürokratie zunächst einmal das Gegenteil davon.
Akribische Detektivarbeit
In den folgenden Tagen und Wochen trieb die Bundesverwaltung beträchtlichen Aufwand, um herauszufinden, ob die FDP-Initiative zustande gekommen war oder nicht. Das Protokoll dieser Übung lässt sich nachlesen in einer ausführlichen Verfügung der BK, die die akribische Detektivarbeit des involvierten Bundespersonals detailliert erläutert. In den 67 von der FDP abgelieferten Schachteln waren Dossiers durcheinandergeraten, die von der BK in liebevoller Kleinarbeit wieder zusammengesetzt wurden. So liessen sich viele Unterschriften «retten», wie es die BK an einer Stelle formuliert. Trotzdem blieb es knapp.
Die FDP stellte sich auf den Standpunkt, sie habe «rund 100 650» beglaubigte Unterschriften eingereicht. Die Auszählequipe der BK kam im ersten Anlauf auf 100 192 Unterschriften, von denen aber nur 96 991 als gültig erschienen. Für die zweite Zählung wurden die Rollen innerhalb der Equipe vertauscht. Sie ergab 96 465 gültige Unterschriften. Nun eskalierte das Dossier auf die höchste Ebene.
Der Bundesrat musste eingreifen: Angesichts der knappen ersten Resultate ordnete er die Bildung einer zweiten Auszählequipe an, die aus Mitarbeitenden aller Departemente bestand mit Ausnahme des Justizdepartements, das in dieser Sache die Federführung innehatte. Die Gruppe machte sich an die Arbeit, untersuchte, zählte und kam schliesslich auf nur 95 388 gültige Unterschriften.
Tippfehler und andere Grenzfälle
Gleichzeitig hatten jedoch die Spezialisten der BK weiterrecherchiert. Zum Beispiel analysierten sie auch noch vier Schachteln, die die FDP deutlich zu spät – Mitte Mai erst – nachgereicht hatte. Laut der Partei befanden sich darin 375 Unterschriften, tatsächlich waren es aber 770. Mehr noch: Den pflichtbewussten Augen der BK-Experten entging nicht, dass der Grossteil der Unterschriften sogar schon vor dem Stichtag, dem 12. April, beglaubigt worden war. Nur hatte die FDP sie nicht rechtzeitig eingereicht.
Daneben gab es viele Grenzfälle: unvollständig fotokopierte, zerrissene und zusammengeklebte Unterschriftenbögen, nur aus Initialen bestehende Unterschriften, Tippfehler in den Bescheinigungen einzelner Gemeinden, verlorengegangene, aber beglaubigte Unterschriften. Und so weiter.
Schliesslich konnte die BK Anfang August 2012, dreieinhalb Monate nach Ablauf der Sammelfrist, das Resultat ihrer direktdemokratischen Feldforschungen und mehrfachen Nachzählungen verkünden: «Der Bundeskanzlei sind fristgerecht höchstens 100 649 Unterschriften eingereicht worden, von denen auch unter Einschluss aller Zweifelsfälle bei günstigster Beurteilung maximal 97 537 gültig sind.» So steht es wörtlich in der Verfügung. Die FDP akzeptierte das Verdikt und dankte der BK für die Flexibilität.
Nach so viel wohlwollender Bürokratie war das Ende der «Anti-Bürokratie-Initiative» besiegelt. So ändern sich die Zeiten. Um den Zweiten Weltkrieg herum hat der Bundesrat zahlreiche Initiativen jahrelang ignoriert und einfach liegenlassen. Heute hingegen hält er nicht nur alle Fristen ein, sondern versucht sogar, grenzwertige Unterschriften zu «retten». Dafür hapert es gelegentlich beträchtlich mit der (Nicht-)Umsetzung angenommener Initiativen, von der Zuwanderung über die Zweitwohnungen bis zur Tabakwerbung und zum Alpenschutz.