Wenn die amerikanischen Geheimdienste Hinweise auf Anschläge entdecken, warnen sie sogar Mächte, die ihnen feindlich gesinnt sind. Sie taten dies im Falle Moskaus und vorher schon gegenüber Iran.
Die USA hatten Moskau vor dem Anschlag der Terrormiliz Islamischer Staat Khorasan (IS-K), der am 22. März 139 Tote forderte, gewarnt. Sie taten dies öffentlich am 7. März, aber sie informierten die russische Regierung offenbar schon vorher inoffiziell. Putin tat die Warnung, die viele Menschenleben hätte retten können, als Provokation und Einschüchterungsversuch ab.
Man kann sich fragen, warum Washington seine Geheimdienstinformationen, die sich offensichtlich als richtig herausstellten, mit Moskau teilte, das ja angesichts des Krieges in der Ukraine kaum als Verbündeter gelten kann. Ein Grund war wahrscheinlich, dass es sich prophylaktisch aus der Schusslinie nehmen wollte. Nach der Warnung wäre es absurd gewesen, wenn Putin versucht hätte, die USA mit dem Angriff in Verbindung zu bringen.
Die Pflicht zur Warnung gilt nicht nur gegenüber Verbündeten
Der Hauptgrund ist aber, dass sich die USA selbst verpflichtet haben, andere Regierungen zu informieren, wenn sie solche Pläne entdecken. Dies erklärte Adrienne Watson, die Sprecherin des Rats für nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten, am Freitagabend selbst: «Die amerikanische Regierung teilte diese Informationen mit den russischen Autoritäten in Übereinstimmung mit der seit langem geltenden ‹Duty to warn›-Politik.»
Die «Duty to warn»-Regel – zu Deutsch «die Pflicht zu warnen» – kam sogar gegenüber Iran zur Anwendung. Die USA warnten das Regime in Teheran Anfang des Jahres, dass der IS bei einer Gedenkfeier des früheren Top-Generals Kassem Soleimani einen Anschlag plane. Die USA selbst hatten Soleimani vier Jahre davor mit einer Drohne getötet. Tatsächlich fand der Anschlag am 3. Januar dieses Jahres statt und tötete 89 Personen. Der IS-K bekannte sich zum Attentat.
Mehrere amerikanische Geheimdienste halten sich seit Jahrzehnten an die «Duty to warn»-Maxime. Formalisiert wurde der Grundsatz allerdings erst im Juli 2015 von James Clapper, der als damaliger Direktor der amerikanischen Geheimdienste die Dienste koordinierte. Die Direktive 191 verpflichtete die diversen Agenturen, sowohl Amerikaner wie auch Nichtamerikaner vor Angriffen zu schützen, über deren Planung man auf dem Laufenden war.
Das Dokument formuliert allerdings auch Ausnahmen, zum Beispiel wenn der Schutz von Informationsquellen oder Methoden höher gewichtet wird als die Rettung von Menschenleben, wenn es sich beim allfälligen Opfer um einen Terroristen oder gewalttätigen Kriminellen handelt oder wenn die Zielperson über den drohenden Angriff bereits informiert ist.
Der Fall Kashoggi
2019 verklagte die in den USA ansässige Nichtregierungsorganisation «Komitee zum Schutz von Journalisten» die Trump-Regierung, weil sie im Fall des ermordeten saudiarabisch-amerikanischen Journalisten Jamal Kashoggi ihre «Pflicht zu warnen» vernachlässigt habe. Kashoggi war am 2. Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul gewaltsam ums Leben gekommen. Seine Leiche wurde nie gefunden, aber das Regime in Riad selbst räumte später seine Tötung ein.
Am 26. Februar 2021 liess die amerikanische Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines einen Bericht veröffentlichen, nach dem der saudische Kronprinz bin Salman selbst eine Operation genehmigt hatte mit dem Ziel, Kashoggi in der Türkei zu fangen und zu töten. Später wurde bekannt, dass Kashoggis Ex-Frau Hanan Elatr eine Klage gegen die NSO Group in den USA plane, da es Hinweise gab, dass man sie mit der Spionagesoftware Pegasus ausgespäht hatte, die von der israelischen NSO Group entwickelt wurde.
Im August 2021 entschied ein Gericht in den USA, die amerikanischen Geheimdienste seien nicht verpflichtet, offenzulegen, ob sie über Informationen im Zusammenhang mit Kashoggis Ermordung verfügten. Deshalb war es auch nicht möglich, festzustellen, ob das «Duty to warn»-Prinzip verletzt wurde. Tatsächlich hält die Direktive 191 fest, dass niemand aus der «Pflicht zur Warnung» ein juristisch durchsetzbares Recht ableiten dürfe, im Gefährdungsfall tatsächlich informiert zu werden.