Für die Konservativen ist es aus Sicht des früheren Tory-Politikers nach 14 Jahren an der Macht Zeit, abzutreten. Doch wird Labour den Mut aufbringen, die grossen Zukunftsfragen in der Migrationspolitik, der Wirtschaftspolitik oder den EU-Beziehungen anzupacken?
Herr Stewart, in Ihrem Buch «Politics on the Edge» zeichnen Sie das Bild einer von Filz und Inkompetenz geprägten britischen Politik. Haben Sie sich Ihre Frustration über Ihre Zeit als konservativer Minister von der Seele geschrieben?
Die meisten Politiker schreiben Memoiren, um ihren nächsten Karriereschritt vorzubereiten oder sich für ihre Entscheide zu rechtfertigen. Ich wollte ein Zeugnis über das Innenleben von Westminster ablegen. Wenige Politiker sprechen offen darüber, wie frustrierend und bizarr der politische Alltag ist. Das ist nicht nur in Grossbritannien so. Amerikanische Kongressabgeordnete verbringen jeden Tag Stunden mit Fundraising-Telefonaten, anstatt sich mit Inhalten zu beschäftigen. Niederländische Kollegen sagen mir, die Parlamentsarbeit sei sinnlos, wenn jedes Detail zuvor in Koalitionsverträgen festgelegt sei. Die Kluft zwischen den Erwartungen an die demokratischen Institutionen und ihren Leistungen wird immer grösser.
Die britischen Konservativen, Ihre ehemalige politische Heimat, gelten als erfolgreichste Partei der Welt. Nun droht ihnen bei der Parlamentswahl in diesem Jahr eine bittere Niederlage. Warum?
Die Konservative Partei hat sich seit dem Wahlsieg von 2019 selbst ruiniert. Zuerst hat Boris Johnson mit der Affäre um Lockdown-Partys die moralische Glaubwürdigkeit zerstört. Dann hat Liz Truss die wirtschaftliche Glaubwürdigkeit zerstört. Und nun ist die Partei unter Rishi Sunak im Begriff, ihre rationale Glaubwürdigkeit zu zerstören, da es ihr schwerfällt, sich zu Reizthemen wie Migration, Klima oder Transgender klar zu positionieren. Die Konservativen verstehen nicht, warum sie in den Umfragen zurückliegen. Nun experimentieren sie mit der Rhetorik der amerikanischen Republikaner, was schlecht zu ihnen passt. Nehmen Sie Liz Truss: Sie tritt nun an Veranstaltungen von Trump-Anhängern auf. Aber sie steht für die Unterstützung der Ukraine, für Freihandel, und sie glaubt, dass Biden die Wahl von 2020 gewonnen hat. Darum kann sie sich nicht gänzlich hinter Trump stellen.
Sie sagen, in Grossbritannien habe der Populismus seinen Zenit überschritten.
Premierminister Rishi Sunak und der Labour-Chef Keir Starmer orientieren sich zur Mitte hin. Das Land war viel polarisierter, als sich 2019 Boris Johnson und Jeremy Corbyn gegenüberstanden. Sunak versucht sich zwar manchmal in populistischer Rhetorik, aber es passt nicht zu ihm, und er tut dies ohne echte Überzeugung. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Sunak verlieren und Starmer an die Macht kommen und bald enttäuschen wird. Dann könnten links und rechts der Mitte wieder radikalere Kräfte Auftrieb erhalten.
Sunak hat versprochen, die Migration über den Ärmelkanal zu stoppen. Bisher ist er mit dem Versuch gescheitert, Asylsuchende nach Rwanda auszufliegen.
Der Premierminister hat sich in eine unmögliche Situation manövriert. Ich bezweifle, dass der Plan in der Praxis funktionieren wird. Sunak ist nicht radikal genug, um die Gerichte gänzlich auszuschalten, wie dies der rechte Parteiflügel fordert.
Wie sollte Grossbritannien mit der Migration umgehen?
Linke und Liberale ignorieren, dass die hohe Migration den Rechtsparteien in ganz Europa Nahrung liefert. Die europäischen Länder müssten sagen, wir nehmen jedes Jahr eine gewisse Zahl von legitimen Asylsuchenden auf, vielleicht 0,05 Prozent der Bevölkerung. Aber im Gegenzug erlauben wir nicht mehr die unkontrollierte Migration über den Seeweg. Das ist hart, aber möglich. Die EU hat es mit dem Pakt mit der Türkei vorgemacht. Zu sagen, Asylsuchende seien in Frankreich gefährdet und müssten darum nach Grossbritannien kommen, ist lächerlich.
Frankreich zeigt wenig Interesse daran, Asylsuchende wieder zurückzunehmen.
Wir sollten Emmanuel Macron anbieten, ihm einen substanziellen Teil der legitimen Asylsuchenden abzunehmen, die nach Frankreich gelangen. Im Gegenzug müsste Frankreich sofort jeden Bootsmigranten zurücknehmen, der irregulär über den Ärmelkanal gefahren ist. Das würde die Anreize verändern. Labour argumentiert in Richtung eines solchen Abkommens, aber viel zu zögerlich.
Sie sind seit 2019 nicht mehr Mitglied der Konservativen Partei. Hoffen Sie, dass Labour die Wahlen gewinnt?
Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, es ist nach vierzehn Jahren konservativer Regierung Zeit für einen Wechsel. Aber ich bin sehr pessimistisch, was eine mögliche Labour-Regierung anbelangt. Grossbritanniens strukturelle Probleme erfordern mutige Lösungen. Das Land braucht eine Industrie-Strategie, es muss voll auf künstliche Intelligenz setzen und der EU-Zollunion beitreten. Labour wird davon nichts umsetzen. Ihre Industriepolitik erinnert an die siebziger Jahre. Zudem scheut die Partei die Konfrontation mit den Gewerkschaften, um KI im Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) auf breiter Front einzuführen. Und Labour hat Angst vor der Europadebatte.
Innerhalb der EU-Zollunion könnte Grossbritannien keine eigene Handelspolitik mehr betreiben.
Beim Brexit-Referendum von 2016 konnten wir noch von Freihandelsabkommen mit China, den USA oder Indien träumen. Aber heute leben wir in einer viel protektionistischeren Welt. Im rechten Flügel der Tory-Partei sitzen noch die weltweit letzten Verfechter des Freihandels. Die Zollunion ist nicht der EU-Binnenmarkt und würde nicht die Personenfreizügigkeit bedingen. Aber sie würde Hürden zu unseren wichtigsten Handelspartnern abbauen und für Investoren Rechtssicherheit schaffen.
Viele Briten haben den Eindruck, in ihrem Land funktioniere nichts mehr richtig. Wie konnte es so weit kommen?
Schlechte Wachstumszahlen und die alternde Bevölkerung plagen auch andere Länder wie Deutschland. Doch gibt es spezifische britische Probleme. Der steuerfinanzierte NHS verschlingt fast die Hälfte des Haushalts. Wir geben immer mehr Geld für die Gesundheit aus, aber die Leistungen, die wir dafür erhalten, sind sehr schlecht. Kein anderes Land organisiert und finanziert sein Gesundheitssystem wie wir. Jemand muss den Mut aufbringen, das der Bevölkerung zu sagen. Zudem schaffen wir es nicht, grosse Infrastrukturprojekte zu realisieren. Der geplante Hochgeschwindigkeitszug zwischen Leeds und Manchester wäre für den Norden Englands ein Meilenstein gewesen. Aber wir scheiterten an unseren Planungsvorgaben, Konsultationsverfahren und Umweltvorschriften. Die Bürokratie führt dazu, dass wir fast doppelt so viel pro Bahnkilometer ausgeben wie die Franzosen.
Ihr Podcast «The Rest is Politics» mit Alastair Campbell, dem ehemaligen Kommunikationschef von Tony Blair, ist der erfolgreichste politische Podcast im Land. Was ist Ihr Erfolgsrezept?
Unser Konzept ist simpel. Wir nehmen uns eine Stunde Zeit, um ein politisches Thema vertieft zu erörtern. Unser Erfolg reflektiert auch die Qualitätsprobleme der britischen Presse. Die meisten politischen Artikel spekulieren darüber, wer der nächste Chef der Tory-Partei werden wird. Eine Folge davon war der Aufstieg von Liz Truss, die offensichtlich ungeeignet war. Aber weil sie charmant auftrat und sich geschickt inszenierte, wurde sie zur ernsthaften Anwärterin hochgejubelt.








