Laut dem Psychiater Erich Seifritz braucht es für solche Menschen dringend spezialisierte Heime. Aber niemand fühle sich zuständig.
Bei ihnen hilft keine Therapie mehr, sie sind seit Jahren, zum Teil Jahrzehnten, psychisch krank. Und für sie ist in psychiatrischen Kliniken immer weniger Platz. Stattdessen haben sich einige wenige Heime auf die Behandlung dieser «Systemsprenger» spezialisiert – etwa das Pflegezentrum Bauma im Tösstal. Plätze dort sind aber rar.
Es brauche eine bessere Versorgung dieser Patienten, fordert nun Erich Seifritz. Er leitet an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, der grössten der Schweiz, die Erwachsenenpsychiatrie.
Herr Seifritz, in den letzten Jahrzehnten sind die chronisch kranken Langzeitpatienten zusehends aus den Psychiatrien verschwunden. Warum?
Sie waren bei uns schlicht am falschen Ort. Bis in die 1990er Jahre wurden diese Menschen vor allem in psychiatrischen Kliniken untergebracht, zum Teil auch in Epilepsiekliniken. Dort haben sie oftmals nicht die passende Betreuung erhalten. Das sind Menschen, die in der Regel mehrere komplexe Erkrankungen und Beeinträchtigungen haben. Bei ihnen steht weniger die Heilung als vielmehr eine Verbesserung der Lebensqualität im Vordergrund.
Wenn sie nicht in psychiatrische Kliniken passen, wohin dann?
In spezialisierte Heime, die auf ihre Pflege ausgerichtet sind. Das sind gute Institutionen, die extrem wichtige, aber auch anspruchsvolle Arbeit leisten. Das war genau die Idee, als man vor dreissig Jahren begonnen hat, Akutbehandlung und Langzeitpflege zu trennen: Solche Patientinnen und Patienten sind – mit Ausnahme von Notfallsituationen – dort am besten aufgehoben, wo sie mehr als ein temporäres Zuhause finden können.
Und hat es geklappt?
Es gibt leider zu wenige Plätze. Die Nachfrage ist riesig, das Angebot zu klein. Und die Institutionen, die es gibt, sind praktisch immer ausgelastet. Man könnte heute ein zweites Heim wie jenes in Bauma aufstellen, und es wäre morgen voll.
Was passiert mit den chronisch Kranken, wenn es keinen Platz für sie gibt?
Es gibt einen Rückstau. Sie bleiben in Institutionen, die für sie ungeeignet sind. Zum Beispiel bei uns oder in anderen psychiatrischen Kliniken. Oder sie werden schon in jungen Jahren in einem Heim untergebracht, das eigentlich auf Altenpflege spezialisiert ist. Beides ist offensichtlich eine Fehlplatzierung.
Wenn sie bei Ihnen landen, bleiben sie also monate- oder jahrelang auf einer Station, die eigentlich für ein paar Wochen gedacht wäre.
Genau. Bei uns in der Akutpsychiatrie sollte man möglichst kurz bleiben, rund zwei bis drei Wochen. Das Ziel ist, psychisch kranke Menschen möglichst ambulant zu behandeln und schnell wieder in die Gesellschaft zu integrieren.
Und wenn das nicht klappt?
Dann bleibt die Patientin oder der Patient bei uns, obwohl das für die Langzeitbetreuung kein ideales Setting ist. Wir haben das immer wieder: Personen, die jahrelang nicht in eine geeignete Institution verlegt werden können. Gerade jetzt haben wir den Fall eines Patienten, der chronische psychische Probleme und eine geistige Behinderung hat. Er ist im Moment in einer anderen Klinik – seit mehreren Jahren! Und damit völlig am falschen Ort. Wir wurden nun gefragt, ob wir ihn übernehmen könnten.
Aber ist er denn bei Ihnen am richtigen Ort?
Nein, langfristig ist er auch bei uns fehlplatziert. Aber wir müssen uns am Machbaren orientieren. Deshalb werden wir den Patienten übernehmen – zur Entlastung der Kollegen. Wir hoffen, dass die Verlegung auch ihm eine gewisse Entspannung bringen wird.
Und wenn nicht?
Unser Ziel ist es, ihn irgendwann so zu stabilisieren, dass er in eine geeignete Institution übertreten kann. Weil aber die entsprechenden Plätze fehlen, durchlaufen Menschen mit solch komplexen Problemen vorher oft eine eigentliche Odyssee durch psychiatrische Akutkliniken.
. . . und tauchen dann auch nicht mehr als Langzeitpatienten in der Statistik auf.
Eigentlich sind das unbefriedigende Notfallübungen. Diese Patienten werden oft als «Systemsprenger» bezeichnet, was allerdings ein falscher Begriff ist. Das System muss sich den Bedürfnissen der Menschen anpassen, nicht umgekehrt.
Was macht diese Personen denn so belastend?
Sie leiden zum Beispiel unter paranoiden oder anderen psychotischen Schüben. Sie fühlen sich dann in alltäglichen Situationen bedroht. Wenn jemand auf sie zuläuft, denken sie etwa: Der will mir etwas Böses, ich muss mich wehren. Und manchmal tun sie das dann auch und werden aggressiv. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Angst.
Wie häufig sind solche Fälle?
Bei uns in der Klinik haben wir im Schnitt zwei pro Jahr. Das mag nach wenig tönen, die Betreuung ist aber sehr aufwendig. Sie generiert in akutpsychiatrischen Kliniken oft Kosten von rund einer Million Franken pro Fall und Jahr. Auch nach den Beiträgen der Krankenkasse bleibt jeweils ein Defizit von mehreren hunderttausend Franken.
Und bei einem spezialisierten Pflegeheim ist das anders?
Ja, denn sie sind genau auf solche Fälle ausgerichtet. Schon allein mit Blick auf die Gesundheitskosten wäre es sinnvoll, wenn es mehr solche Institutionen gäbe.
Warum gibt es sie dann nicht?
Gute Frage . . . (überlegt) Zum einen ist die Finanzierung ein Problem. Die derzeitigen Tarife decken die Kosten nicht. Ausserdem gibt es keine klare Zuständigkeit. Gemeinden, Krankenkassen, Kanton, Bund, Familie: Viele verschiedene Player sind involviert. Und alle wollen, dass die anderen zahlen.
Mit dem Resultat, dass es am Ende insgesamt mehr kostet.
Genau. Dazu kommt: In der Medizin fristet die Behandlung solcher psychiatrischer Langzeitpatientinnen und -patienten ein ziemlich stiefmütterliches Dasein.
Warum denn? Weil man als Psychiater am liebsten Patienten behandelt, die man auch heilen kann?
Die Behandlung betrifft sehr unterschiedliche Disziplinen – Psychiatrie, Neurologie, Innere Medizin. Sie ist äusserst komplex und wird in der Ausbildung ungenügend gelehrt. Deswegen sind ich und andere Psychiater daran, einen spezifischen Weiterbildungsgang «Inklusive Medizin» zu entwickeln. Ein solcher ist in anderen europäischen Ländern schon längst etabliert. Da besteht in der Schweiz erheblicher Nachholbedarf.
Wäre es nicht Ihre Aufgabe als psychiatrische Klinik, hier selbst Angebote zu schaffen?
Wie gesagt: Wir sind für die Akutbehandlung zuständig. Die Langzeitbetreuung gehört nicht zu unserem Leistungsauftrag.
Die moderne Psychiatrie sieht es also gar nicht mehr als ihre Aufgabe, diesen Menschen zu helfen.
Wir hoffen, dass mit der neuen Weiterbildung auch das Behandlungsangebot ausgebaut und verbessert werden kann, inklusive aufsuchender Angebote in Langzeiteinrichtungen und Aufbau spezialisierter Abteilungen in psychiatrischen Kliniken. Die Politik ist aber auf jeden Fall gefordert, bessere Finanzierungsmodelle für diese Patientengruppe zu entwickeln.
Es sind in gewisser Hinsicht die Vergessenen im Versorgungssystem.
Es sind die bedürftigsten Mitglieder in unserer Gesellschaft. Und es widerspiegelt den Zustand von uns als Gemeinschaft, wie wir mit ihnen umgehen. Ich finde, wir sollten ihnen bieten, was möglich ist. Und da ist noch viel Luft nach oben!