Die Völkerrechtsprofessorin Helen Keller war selber Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Erfolg der Klimaseniorinnen habe für die Klimapolitik weitreichende Folgen, sagt sie.
Aus Sicht von Helen Keller, Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich, hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zur Beschwerde der Klimaseniorinnen weitreichende Folgen. Die Verpflichtungen, die negativen Folgen der Klimaerwärmung zu reduzieren, könnten nun von Umweltorganisationen in ganz Europa durchgesetzt werden. Keller war von 2011 bis 2020 vollamtliche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Wie beurteilen Sie das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zur Klage der Klimaseniorinnen?
Aus meiner Sicht ist das Urteil bahnbrechend. Und zwar für das Klimarecht, die Menschenrechte sowie für die Stellung der Umweltorganisationen. Der Gerichtshof hat den Zusammenhang hergestellt zwischen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die im Lichte der Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen und der Aarhus-Konvention ausgelegt werden muss, und den nationalen Verpflichtungen, die negativen Auswirkungen der Klimaerwärmung auf die Menschen zu reduzieren. Diese Verpflichtungen können zumindest von Umweltorganisationen nun in ganz Europa durchgesetzt werden.
Laut den Richtern hat die Schweiz das Recht auf Privat- und Familienleben missachtet sowie das Recht auf ein faires Verfahren. Was heisst das konkret?
Die Schweiz ist vom EGMR erstens gerügt worden, weil sie im nationalen Verfahren die Anliegen des Vereins der Klimaseniorinnen nicht seriös geprüft hat. In Zukunft müssen die Gerichte solche Klagen ernster nehmen, und zwar nicht nur in der Schweiz. Zweitens stellte der EGMR fest, dass die Schweiz zu lange zu wenig unternommen hat, um die Klimaziele zu erreichen.
Könnten die Klimaseniorinnen nun mit ihrem Begehren nochmals an das Bundesgericht gelangen?
Das kann der Verein versuchen. Ich meine aber, dass eine Revision nicht notwendigerweise stattfinden muss. Sie würde in diesem Fall wohl nicht viel bringen. Der Gerichtshof hat eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren festgestellt, dies aber nicht mit der Aufforderung verknüpft, dass die nationalen Gerichte die Sache nochmals aufrollen sollen. Auch die Tatsache, dass der EGMR eine Verletzung des Privat- und Familienlebens so klar festgestellt hat, spricht aus meiner Sicht gegen eine Wiedereröffnung des Verfahrens auf nationaler Ebene.
In der Schweiz wurde die Klage von allen Instanzen abgelehnt. Ganz anders sieht es beim EGMR aus, wo die Klage nun Erfolg hatte. Was sind die Gründe für diese Diskrepanz?
Die nationalen Behörden haben vor allem die Beschwerdelegitimation des Vereins zu oberflächlich abgelehnt. Das Bundesgericht hat die Frage einfach offengelassen. Die Verbände spielen aber eine immer wichtigere Rolle im Umwelt- und nun auch im Klimarecht. Der EGMR hat diesen internationalen Trend nun aufgenommen und in diesem neuen Urteil angewandt. Deshalb ist dieses Urteil wegweisend. Es sichert den Vereinen und Verbänden in Klimafällen einen Zugang zum Gericht. Dieser Anspruch besteht primär gegenüber den nationalen Gerichten. Er kann aber vor dem EGMR durchgesetzt werden.
Welche Konsequenzen wird das Urteil nun konkret haben – politisch und auf Behördenseite?
Der Gerichtshof macht klar, dass es nicht seine Aufgabe ist, der Schweiz zu sagen, wie sie die Klimaziele erreichen soll. Da besteht ein weiter Ermessensspielraum. Immerhin verlangt der EGMR von der Schweiz, dass sie sich ernsthaft um die Einhaltung der Klimaziele bemüht. Für alles andere verweist der EGMR auf das Ministerkomitee. Das heisst, die Schweiz muss diesem Gremium darlegen, wie sie das Urteil umsetzen will.
Führt das Urteil nun zu einer Schwemme von neuen Klimaklagen in ganz Europa?
Der EGMR stellt strenge Anforderungen an die klagelegitimierten Vereine und Verbände. Gleichzeitig hat er die individuelle Legitimation der Klimaseniorinnen abgelehnt. Damit stellt er eine wichtige Weiche: Es ist schwieriger als Individuum, aber leichter als Verein oder Verband, an den EGMR zu gelangen. Eine bittere Pille bleibt aber für die Vereine: Solche Verfahren sind – auch wenn sie erfolgreich sind – mit einem grossen finanziellen Risiko verbunden. Der Verein der Klimaseniorinnen hat zwar die Rückerstattung von rund 320 000 Franken beantragt, der EGMR hat die Schweiz aber nur zur Zahlung von 80 000 Euro verpflichtet.