Über ein Gesetz, das Gesetze bricht – und Russland, das das westliche Rechtssystem skrupellos ausnutzt, indem es Migranten an die finnische Grenze schickt.
Omar möchte nach Finnland. Am 8. April schreibt er in einer arabischen Telegram-Gruppe für Migranten in Russland: «Gibt es noch Hoffnung, dass der Weg nach Finnland geöffnet wird und wir nicht nach Minsk müssen? Was gibt es Neues über verbotene Dinge?»
Geht es nach der finnischen Regierung, wird Omar nie einreisen. Im Dezember 2023 hat Finnland die Grenze zu Russland komplett geschlossen. Über mehrere Wochen hatten Hunderte Migranten aus Drittstaaten wie Jemen, Syrien und dem Irak an der finnischen Ostgrenze Asylgesuche gestellt. Schnell hatte sich in den sozialen Netzwerken herumgesprochen, dass die finnisch-russische Grenze ein Tor nach Europa sei. Hinter der neuen Migrationsbewegung steckt nach Angaben des finnischen Geheimdienstes der Kreml. Ziel der Aktion soll es sein, in Finnland Chaos zu stiften.
Nachdem Finnland alle Grenzposten dichtgemacht hatte, blieben viele Migranten wie Omar auf ihrem Weg nach Europa in Russland stecken. Der einzige Weg aus dem Norden Russlands in den Westen führt derzeit über die grüne Grenze. Doch diese Route ist nicht nur verboten, sondern im Winter auch gefährlich. Entsprechend wenige haben sie gewählt. Die finnische Grenzschutzbehörde geht davon aus, dass auf der russischen Seite Hunderte oder sogar Tausende Menschen darauf warten, nach Finnland zu gelangen.
Die Grenze hätte eigentlich am 14. April wieder aufgehen sollen. Die Regierung hat sich jedoch dagegen entschieden. Ministerpräsident Petteri Orpo sagte gegenüber dem Sender Yle, dass Russland in der Lage sei, schnell eine sehr grosse Zahl von Migranten an die Grenze zu bringen. «Die Gefahr ist offensichtlich.»
Für die Regierung ist deshalb klar: Die Grenze kann erst wieder geöffnet werden, wenn den Behörden griffige Mittel zur Verfügung stehen, um Russlands perfidem Spiel ein Ende zu setzen. Um der Situation zu begegnen, hat die Regierung ein Gesetz erarbeitet. Doch dieses birgt neue Probleme.
Das Dilemma: innere Sicherheit oder Menschenrechte?
Die geplante Sonderregelung sieht vor, dass finnische Grenzbeamte Migrantinnen und Migranten zurückweisen könnten – und zwar ohne dass diese die Möglichkeit hätten, ein Asylgesuch zu stellen. Darüber, wann das Gesetz zur Anwendung kommt, würde die Regierung gemeinsam mit dem Präsidenten entscheiden, heisst es. Die Sonderregelung soll jeweils für maximal einen Monat am Stück gelten.
Mit dem Gesetz würde Finnland Pushbacks legalisieren. Und es würde damit nicht nur gegen internationales Recht, sondern auch gegen seine eigene Verfassung verstossen. Entsprechend gemischt fallen die Reaktionen aus. Während die finnische Regierung und Präsident Alexander Stubb mit der Wahrung der inneren Sicherheit argumentieren, sehen Völkerrechtlerinnen und Völkerrechtler Finnlands Rechtsstaatlichkeit in Gefahr.
Die Pläne der finnischen Regierung lassen sich kaum mit der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbaren. Artikel 33 legt fest, dass kein vertragschliessender Staat einen Flüchtling in ein Land abschieben darf, wo sein Leben oder seine Freiheit bedroht sind. Das Abkommen verbietet Pushbacks nicht explizit. Ob jemand bedroht wird, lässt sich jedoch nur durch eine individuelle Prüfung des jeweiligen Falls ermitteln, und genau dies soll gemäss finnischem Sonderrecht nicht geschehen.
Die Innenministerin Mari Rantanen von der rechtsnationalen Finnenpartei räumt im Begleittext zum Gesetzesentwurf ein, dass «das Risiko besteht, dass die Behörden nicht alle Personen identifizieren können, denen eine Todesstrafe, Folter oder eine andere die Menschenwürde verletzende Behandlung oder Strafe droht». An einer Medienkonferenz sagte Rantanen aber auch: «Wir haben das Recht und die Pflicht, unsere Grenzen zu schützen, und ein Recht auf Selbstbestimmung.»
Die Regierung hält es für wahrscheinlich, dass unter den Migranten, die im Winter eingereist sind, auch Kriegsverbrecher oder andere Personen waren, die die innere Sicherheit des Landes gefährden. In den letzten Wochen wurde dies immer wieder als Argument für das umstrittene Gesetz genutzt.
Das Parlament soll noch im April über das Gesetz entscheiden. Um es anzunehmen, braucht es eine Mehrheit von fünf Sechsteln, da es sich um eine dringliche Vorlage handelt. Wenn das Gesetz angewendet wird, muss das Land jedoch mit Konsequenzen rechnen.
Verantwortung und Moral
2021 liess der weissrussische Autokrat Lukaschenko Tausende Migranten an die Grenze zu Polen und Litauen schleusen, um Chaos zu stiften. Die Länder reagierten mit Pushbacks. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kam später zu dem Schluss, dass der weissrussische «Hybridangriff» kein genügend gewichtiger Grund gewesen sei, das Recht auf Asyl einzuschränken. Vorwürfe körperlicher Misshandlungen standen im Raum.
Litauen kümmerte der öffentliche Aufschrei wenig. Im Mai 2023 trat dort ein Gesetz in Kraft, das Pushbacks legalisiert. Ein ähnliches Gesetz ist in Polen seit zweieinhalb Jahren in Kraft.
Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde 1951 verabschiedet – in einer Zeit, als noch niemand auf die perfide Idee gekommen war, Menschen als politisches Druckmittel einzusetzen. Der finnische Präsident Alexander Stubb sagte bei seinem ersten offiziellen Besuch an der Ostgrenze denn auch, dass in der Asylpolitik über grundsätzliche Erneuerungen diskutiert werden müsse.
Klar ist jedoch, dass eine Änderung des europäischen Asylrechts viel Zeit brauchen wird. Zeit, die Finnland womöglich nicht hat, denn der Frühling naht, und wenn der Schnee schmilzt und die Tage länger werden, könnte der Druck an der Grenze zunehmen, befürchtet die Grenzschutzbehörde. Migranten wie Omar warten bereits.