Der Energiesektor ist in Bewegung. Auftrieb verspüren auch Aktien von amerikanischen Erdgaskonzernen. Dies, obschon am Gasmarkt momentan ein massives Überangebot herrscht. Was steckt hinter den Kursavancen?
Die Schlagzeilen sollten Investoren eigentlich abschrecken: Die globalen Energiemärkte werden gegenwärtig von einem Überangebot an Erdgas überschwemmt. Hauptgrund dafür ist das ungewöhnlich milde Wetter der vergangenen Monate, das den Verbrauch dämpfte.
Die USA als weltgrösster Exporteur von Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG) haben gerade einen rekordverdächtig warmen Winter hinter sich. In Europa waren die Temperaturen nur im Winter 2019/20 wärmer. Auch in Japan, ebenfalls einem der wichtigsten Abnehmer für Erdgas, war es deutlich weniger kalt als in der historischen Norm.
Negativer Gaspreis
Milde Temperaturen bedeuten, dass weniger geheizt und damit weniger Erdgas verbraucht wird. Entsprechend ist der Preis eingebrochen. Am Umschlagplatz Henry Hub an der US-Golfküste hat sich die Notierung seit Anfang Winter temporär um bis zu 50% verbilligt und bewegt sich derzeit kaum viel höher als auf dem Tief vom Sommer 2020 nach dem Ausbruch der Pandemie. Im Westen des Gliedstaats Texas gab es im März so viel überschüssiges Gas, dass der Preis sogar negativ war.
Vor diesem Hintergrund würde man vermuten, dass auch die Aktien von amerikanischen Erdgaskonzernen tief in die Verlustzone abgestürzt sind. Doch das Gegenteil ist der Fall: Der First Trust Natural Gas ETF, ein Aktienkorb von Gasförderkonzernen, ist seit Februar auf dem Vormarsch. Gemessen am Stand von Anfang Jahr notiert er knapp 17% im Plus. Einzeltitel wie Antero Resources, Range Resources und CNX Resources haben rund 20 bis 35% gewonnen.
Wie lässt sich diese Diskrepanz begründen? Bei simplen Erklärungen ist an der Börse in der Regel Vorsicht angebracht. Bekannt ist aber, dass viele Energieunternehmen ihre Produktion im Voraus absichern. Gemäss dem Datendienst S&P Global Intelligence hatten die grössten US-Gasförderer im vergangenen Herbst rund ein Drittel ihrer Produktion für 2024 über Terminkontrakte verkauft, wobei der Preis damals deutlich höher war.
Ölpreis als Orientierung
Der «Big Daddy» im Energiesektor ist zudem der Ölpreis. An ihm orientieren sich auch Erdgasaktien zu einem wesentlichen Teil. Beim Erdöl geht der Trend bereits seit Mitte Dezember nach oben. Zum Preis von 90.60 $ notiert ein Fass der europäischen Referenzsorte Brent 18% höher Anfang Jahr. Die US-Sorte West Texas Intermediate (WTI) hat sich mehr als 20% verteuert.
Eine Rolle spielt wohl auch, dass die Börsen vorausschauen. Der Winter 2023/24 ist längst abgehakt. Gut möglich daher, dass Erdgasaktien die schwierigste Phase bewältigt haben. Positiv auf ihren Kurs dürften sich die Aufhellung der Konjunkturaussichten und anhaltende Spannungen in der Geopolitik auswirken. Für Fantasie könnte weiter der grosse Energiehunger sorgen, der mit dem Boom im Bereich künstlicher Intelligenz und dem Ausbau von Rechenzentren entsteht.
Hinzu kommt ein entscheidender Punkt: Dank wachsenden Exporten zeichnet sich eine Angleichung des US-Gaspreises an das international höhere Niveau ab. Aufhorchen lassen in diesem Zusammenhang Äusserungen von RWE-Chef Markus Krebber. «Der Gaspreis in Kontinentaleuropa, insbesondere in Deutschland, ist jetzt strukturell höher, weil wir letztlich von LNG-Importen abhängig sind», sagte er diese Woche der «Financial Times».