Schwere Stürze überschatten die Saison der Strassenradprofis. Es wäre Zeit, über eine Verkleinerung der Felder nachzudenken – und über Airbags.
Die Tour de France 2024 beginnt erst am 29. Juni. Aber schon jetzt ist es wahrscheinlicher geworden, dass Tadej Pogacar das wichtigste Rennen des Jahres zum dritten Mal gewinnt: Seine grössten Konkurrenten haben sich allesamt verletzt. Besonders schwer erwischte es an der Baskenland-Rundfahrt den Hauptrivalen Jonas Vingegaard, der sich unter anderem die Lunge quetschte. In derselben Kurve wie er stürzten auch Primoz Roglic und Remco Evenepoel.
Mehr und mehr wirkt der Radsport wie ein zynisches Pokerspiel. Wer es schafft, im Sattel zu bleiben, erhöht seine Aussichten auf Siege. In den letzten Wochen verunfallten besonders viele Siegfahrer, unter ihnen auch die Schweizerin Marlen Reusser: Sie brach sich den rechten Kiefer, beide Gehörgänge und acht Zähne.
Das Pech der Stars lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Problem, das sich bereits seit Jahren akzentuiert. In der Saison 2023 verletzten sich 296 weibliche und männliche Radprofis, so viele wie nie zuvor. 2017 waren es noch 134 gewesen, nicht einmal die Hälfte.
Die gehäuften Missgeschicke schmälern den Wert grosser Siege. Mathieu van der Poel gewann 2024 nach Solo-Attacken die wichtigsten Eintagesrennen der Saison, die Flandernrundfahrt und Paris–Roubaix. Seine Dominanz wirkte eindrücklich. Doch zur Wahrheit gehört, dass neben weiteren Stars in beiden Rennen auch sein wichtigster Gegenpart fehlte, Wout van Aert. Er hat sich gerade unter anderem das Schlüsselbein, sieben Rippen und das Brustbein gebrochen.
Ein Sport, in dem es zum Normalzustand wird, dass die Fahrer in schwere Karambolagen verwickelt werden, bekommt ein systemisches Problem. Nicht zuletzt, weil sich manche Fahrer nicht damit arrangieren wollen, dass die Angst vor Knochenbrüchen ihr permanenter Begleiter ist. Stefan Küng, seit Jahren der beste Schweizer Profi, vor allem aber auch Familienvater, sagt dem «Blick»: «Wenn sechs oder sieben bei einem Rennen im Spital landen, frage ich mich schon, wie lange ich mir das noch antun will.»
Stürze gab es im Radsport schon immer. Dass die Zahl der Verletzungen zunimmt, welche in aller Regel weit über Schürfwunden und Prellungen hinausgehen, liegt nicht zuletzt am immer höheren Tempo im Feld. In dieser Saison wurden die Classiques Mailand–Sanremo, die Flandernrundfahrt und Paris–Roubaix so schnell bestritten wie nie zuvor. Statistiken der Plattform Procyclingstats belegen, dass diese Rennen keinesfalls Ausreisser waren: Praktisch überall wird immer rasanter um Siege gekämpft.
Das Material hat sich markant verbessert. Helme, Trikots und Sitzpositionen wurden aerodynamisch optimiert. Sowieso zum Standard gehören Carbonrahmen mit niedrigem Gewicht bei hoher Steifigkeit, Hochprofilfelgen und Scheibenbremsen. All das macht schneller.
An den Scheibenbremsen zeigt sich beispielhaft, wie problematisch sich prinzipiell sinnvolle Innovationen auswirken können. Sie verkürzen den Bremsweg. Wer alleine unterwegs ist, wird sich in aller Regel sicherer fühlen. Doch wenn in Gruppen jeder Fahrer aufs Funktionieren seiner Scheibenbremsen vertraut, also vor Kurven erst im letztmöglichen Moment bremst, genügt ein minimaler Fehler, und es kommt zur Kollision.
50 Prozent der Stürze in Rennen sind mittlerweile auf Fahrfehler zurückzuführen. Das geht aus einer Statistik des Radsport-Weltverbandes UCI hervor. Der Stress im Peloton ist grösser geworden: Während die Stars früherer Generationen kleine Rennen als Trainingseinheiten betrachteten, kämpfen die heutigen Siegfahrer permanent um Siege. Ausserdem attackieren sie sich häufig schon Dutzende Kilometer vor dem Ziel, statt auf die Schlussanstiege zu warten. Um mögliche Angriffe der Gegner zu antizipieren, will in der Folge jeder ständig an der Spitze fahren, was naturgemäss nicht möglich ist.
Die Baskenland-Rundfahrt wäre einst von Fahrern wie Lance Armstrong und Jan Ullrich hergeschenkt worden. Jetzt raste das Feld dort mit 81 Kilometern pro Stunde auf eine Kurve zu, wie der Velocomputer von Remco Evenepoel später offenbarte. In der Kurve kam es zum Crash.
Der UCI-Präsident David Lappartient schlägt nun eine Anleihe aus dem Fussball vor: Er will Fahrfehler mit Sanktionen in Form gelber und roter Karten belegen. Allzu oft ist nach einem Massensturz jedoch unmöglich festzustellen, wer verantwortlich zu machen wäre, weshalb die Initiative gänzlich untauglich wirkt. Auch andere Ideen hätten eher kosmetischen Charakter, etwa ein künstliches Verlangsamen des Feldes mithilfe langsamerer Reifen.
Wirklich helfen würden dem Radsport nur weitreichende Gegenmassnahmen. Zum einen sollte es kein Tabu sein, die Profis besser zu schützen. Sobald entsprechende Produkte den höchsten Ansprüchen genügen, wäre es denkbar, sie mit Airbags auszustatten. Halskrausen, die sich bei Stürzen öffnen, existieren bereits.
Ebenso zielführend wäre, die Felder zu verkleinern. Müsste beispielsweise jedes Team auf zwei bis drei Helfer verzichten, entfiele die Sorge, vor Schlüsselstellen zu weit hinten im Feld platziert zu sein, welche riskante Überholmanöver überhaupt erst auslöst. Die Rennen wären nicht weniger spannend, aber sicherer.
An der Classique Paris–Roubaix versuchten die Veranstalter dieses Jahr, die gefährlichste Schlüsselstelle zu entschärfen, indem sie vor den berüchtigten Pflastersteinen im Wald von Arenberg eine 180-Grad-Kurve einbauten, um das Tempo zu drosseln. Doch dann schrumpfte die Spitzengruppe schon vor dem Erreichen des Abschnitts so sehr, dass im Arenberg anders als in früheren Jahren keinerlei Probleme entstanden.
In einem Peloton mit überschaubarer Grösse werden Unfälle unwahrscheinlicher. Die Sturzserie wird für den Radsport zur Gefahr –doch es gibt Lösungsansätze.