Das Ende der Fernwärme-Heizperiode ist jedes Jahr ein Politikum. So anpassungswillig viele Russen sonst sind: Wenn es zu Hause kalt ist, hört die Geduld schnell auf. Das hat nicht nur mit dem Klima zu tun.
Der Frühling ist in Moskau eingezogen. Überall riecht es nach Farbe: Frühlingsputz auf Russisch heisst, angerosteten Zäunen, Eingangstoren und verwitterten Bordüren einen neuen Farbanstrich zu verpassen. Bis in den späteren Abend hinein sitzen die Gäste in den Ausgehvierteln draussen, erst recht natürlich tagsüber im noch etwas fahlen Sonnenschein. Heiss ist es nur in den Wohnungen – als sei der Hochsommer schon ausgebrochen.
Die Heizkraftwerke hätten die Temperatur des Wassers reduziert, heisst es. Noch aber will die Stadtverwaltung den Einwohnern keine kalten Radiatoren zumuten. Die Russen sind gewöhnlich hart im Nehmen und unzimperlich im Geben. Der Krieg und die Sanktionen zeigen, wie anpassungsfähig sie sind. Aber es gibt eine auffällige Ausnahme: Zu Hause soll es immer schön warm sein.
Lieber zu heiss als zu kalt
Der überwiegende Teil der Russen, die in Städten und grösseren Siedlungen lebt, heizt seit Sowjetzeiten mit Fernwärme. Noch immer fehlt es in sehr vielen Wohnungen an Heizkörpern mit Regulierungsmöglichkeiten; auch die Rohre sind oft nicht in der Wand verlegt und strahlen Wärme ab. Auf Gedeih und Verderb sind diese Russinnen und Russen daher von den Stadtbehörden abhängig.
Diese entscheiden, wann im Herbst die Heizperiode beginnt und im Frühling endet; und die Heizkraftwerke regulieren die Hitze in den Rohren entsprechend den Witterungsbedingungen. Die Devise ist: lieber zu heiss als zu kalt. Viele Russen stören sich nicht daran. Wenn es zu warm wird im Zimmer, schlafen sie eben bei offenem Fenster – auch bei tiefen Minustemperaturen.
Dass warme Wohnungen in Russland einen anderen Stellenwert geniessen als im klimatisch weniger rauen Zentraleuropa, ist grundsätzlich nicht verwunderlich. Und es sind nicht nur die Witterungsbedingungen, die rau sind. Die eigenen vier Wände sind auch der einzige Ort, der vor der Unbill des oft harten Alltags schützt.
Mögen Wohnblöcke, ihre Treppenhäuser und Flure noch so heruntergekommen sein – an der Türschwelle zur Wohnung öffnet sich meist eine ganz andere, heimelige und eben auch warme Welt. In der bedrohlichen Wirklichkeit ist das Privatleben, und als dessen Ort die Wohnung, der Nukleus des Daseins. Darauf, und nicht auf Krieg oder Gewalt, misstrauische Nachbarn, fordernde Chefs und politische Diskussionen, ist alles ausgerichtet. Das Fremde und die Kälte sollen draussen bleiben.
Umso unangenehmer wird es für den Staat, wenn, wie in diesem Winter geschehen, marode Heizwerke übers ganze Land verteilt ihren Dienst aufgeben. Niemand bleibt gleichgültig, wenn bei tiefen Minustemperaturen die Heizung ausfällt, Rohre platzen und sich der Schimmel in der Wohnung ausbreitet. In Russland haben Proteste von Bürgern, die sich in ihrem Schicksal vernachlässigt fühlen, stets mehr Sprengkraft als die Verbreitung politischer Losungen. Präsident Putin persönlich fühlte sich angesprochen, den Verantwortlichen Beine zu machen.
«Vergesst den Mai-Frost nicht!»
Aber auch wenn alles gut funktioniert, sind die Tücken des Heizens beträchtlich. Selbst als es Ende März immer wärmer wurde und während Tagen mehr oder weniger konstant 20 Grad warm blieb, war laut einer Umfrage eines Moskauer Nachrichtenportals die Mehrheit der Befragten nicht bereit, auf die Heizung zu verzichten. «Noch blüht die Traubenkirsche nicht», gaben Leser zu bedenken. Und: «Den Mai-Frost hat noch niemand abgeschafft.»
«Plötzlich wird es nochmals kälter» – mit diesem Argument wehrte sich eine Mehrheit der Umfrageteilnehmer gegen das Abschalten der Heizung. «Sobald die Heizung abgeschaltet wird, kommt die Kälte zurück», meinte eine Leserin. Das Argument stiess allerdings auch auf Widerspruch. «Frost kann es auch im Juli geben. Soll doch die Heizung das ganze Jahr über laufen», schrieb einer sarkastisch.
Wenn es dann doch so weit sein wird, dass die Heizperiode endet, naht schon das nächste Ungemach: In alter sowjetischer Tradition wird in den Sommermonaten reihum für zehn Tage das ebenfalls zentral aufbereitete Warmwasser in den Wohnungen abgestellt. Vorläufig jedenfalls scheint es die Stadt nicht zu wagen, den Sommer auszurufen und die Heizkessel abzukühlen. Die Wetterfrösche sagen tatsächlich noch einmal kältere Tage voraus.