Am Mittwoch werden in einer Anhörung im US-Senat neue Vorwürfe eines Whistleblowers gegen Boeing verhandelt. Der Hersteller wehrt sich vorab.
Es ist alles furchtbar kompliziert. Es geht manchmal nur um Zehntelmillimeter von unerwünschten Zwischenräumen beim Zusammenfügen von Rumpfsegmenten der Boeing 787 aus Kohlefaser-Verbundwerkstoff. Und um die Fragen, wie Boeing damit umgeht, was in der Fertigung in Charleston im Gliedstaat South Carolina verbessert wurde oder nicht und ob in diesen Mikro-Lücken ein Sicherheitsrisiko liegen könnte. Oder sie zumindest die Lebensdauer der immer noch neuen Flugzeuge verkürzen.
Ab Mittwoch wird ein jetzt vorab an die Medien gegangener Boeing-Mitarbeiter als Whistleblower vor einem Ausschuss des US-Senats in Washington öffentlich aussagen. Damit werden die tiefgreifenden Probleme bei dem Hersteller erneut in den Fokus geraten.
Der Ingenieur Sam Salehpour arbeitet seit 2007 bei Boeing und erklärte gegenüber amerikanischen Medien: «Produktionsmitarbeiter wenden ein völlig unangemessenes und unbegrenztes Mass von Gewalt an, um Zwischenräume zwischen Rumpfsegmenten zu schliessen.» Dabei würden «Leute auf Flugzeugsegmenten herumspringen, um die Lücken zu schliessen». Boeing verstecke das Problem, indem das Unternehmen die Segmente mit Gewalt zusammenfüge, um es so aussehen zu lassen, als ob es nicht existiere.
Am Montag äusserte sich der Hersteller erstmals vor Fachjournalisten detailliert zu den Vorwürfen. «Auf Teilen herumzuspringen, gehört nicht zu unserem Arbeitsprozess», sagte Lisa Fahl, eine von Boeings Chefingenieurinnen. «Wir folgen den festgelegten Prozeduren, und dazu gehört nicht die Anwendung von Gewalt.» Ihr Kollege Steve Chisholm, oberster Strukturingenieur des Hauses, ergänzte: «Ich würde erwarten, dass jeder Mitarbeiter, der einen anderen auf Teilen herumspringen sieht, uns verständigt.»
Vorher hatten die ranghöchsten Boeing-Ingenieure stundenlang derart ausgiebig und haarklein die Prozesse und die veränderte Vorgehensweise in der 787-Produktion beschrieben, dass es eines Ingenieurstudiums bedurft hätte, um dem vollumfänglich folgen zu können. Dabei war die grundlegende Botschaft simpel: «Wir haben volles Vertrauen in die Sicherheit und die Langlebigkeit unserer Flugzeuge», versicherten Chisholm und seine Kollegin mehrfach.
Genau dieses Vertrauen allerdings halten die Whistleblower für völlig unangemessen. Erst im März war ein anderer ehemaliger Boeing-Ingenieur, John Barnett, nach vermutlicher Selbsttötung aufgefunden worden. Auch er hatte über Jahre hinweg Fehlentwicklungen in der 787-Produktion angeprangert und darüber in Medien und anwaltlichen Anhörungen ausgesagt. «Es ist traurig, aber ich würde aus Sicherheitsbedenken nie in eins der von uns hier gebauten Flugzeuge einsteigen», äusserte Barnett damals im amerikanischen Fernsehen.
Whistleblower bringt den Senat auf die Spur
Genau in diese Wunde will am Mittwoch auch der demokratische Senator Richard Blumenthal auf grosser Bühne in Washington seinen Finger legen. Er leitet den Unterausschuss des Senats, vor dem Sam Salehpour erstmals öffentlich aussagen und Belege vorlegen will. «Wiederholte, schockierende Vorwürfe über Boeings Produktionsversagen deuten auf einen entsetzlichen Mangel an Sicherheitskultur und Sicherheitspraktiken hin, wobei der Profit vor allem anderen priorisiert wird», liess der Senator vorab in einer Pressemitteilung verlauten.
Sam Salehpour hatte davor gewarnt, dass die unsauber zusammengefügten 787-Rümpfe sogar nach Tausenden von Flügen auseinanderbrechen könnten. Nachdem er seine Vorwürfe öffentlich gemacht hatte, war die Boeing-Aktie um zwei Prozent eingebrochen.
Der technisch revolutionäre und kommerziell erfolgreiche Dreamliner bereitete Boeing schon vor dem Erstflug 2009 und vor allem nach der Einführung 2011 Kopfschmerzen. Er war lange gegroundet, schliesslich durften aufgrund der aufgetretenen Fehler zwei Jahre lang gar keine 787 ausgeliefert werden.
Seit der Krise um die Boeing 737 Max ab 2018 und vor allem seit im Januar dieses Jahres bei einer werksneuen Max im Flug eine deaktivierte Tür nach einem Produktionsfehler herausgebrochen ist, kämpft der ehemals grösste Flugzeugbauer der Welt einen harten Kampf an allen Fronten. Eine der angesehensten, traditionsreichsten, innovativsten Firmen in der Geschichte der Luftfahrt steht derzeit vor den Trümmern ihrer einstigen Reputation, und die Senatsanhörung am Mittwoch wird die Lage nicht verbessern. Jüngst hat eine Allianz der CEO der grössten amerikanischen Airlines den Boeing-Chef Dave Calhoun zum baldigen Rückzug gezwungen.
Es geht längst nicht mehr nur um die 737 Max und die 787, sondern um die gesamte Produktpalette, inklusive des derzeit grössten gebauten Langstreckenflugzeugs, der Boeing 777-9, auf deren um viele Jahre verspätete Auslieferung die Erstkunden wie Emirates und Lufthansa dringlich warten. An diesem Programm arbeitet auch der Whistleblower Sam Salehpour, nachdem er nach eigener Aussage dorthin strafversetzt und zuvor intern bedroht, benachteiligt und mundtot gemacht worden war.
Boeing bestreitet auch diese Vorwürfe. Die Chefingenieurin Lisa Fahl betont stattdessen, wie wichtig dem Unternehmen die Einbindung kritischer Stimmen sei: «Sie anzuhören, ist von grösster Wichtigkeit und macht uns stärker. Wir haben auch eine Hotline, die jedermann jederzeit anrufen kann, um von Problemen zu berichten.» Salehpour sagt, dass es auch bei der aus Aluminium gefertigten 777 zu unsachgemässer Gewaltanwendung komme, was der Hersteller dementiert.
Multiple Materialbelastungen am Boden simuliert
Eines der Hauptargumente Boeings gegen die Stichhaltigkeit solcher Vorwürfe sind die statischen Tests, die der Hersteller mit allen neuen Flugzeugen macht. Dabei werden die Rümpfe auf einem Teststand eingespannt und im Zeitraffer durch simulierte Flüge so stark belastet, dass es einem Vielfachen der tatsächlichen Lebensdauer entspricht.
So wurde in einem achtjährigen Versuch ein 787-Kohlefaserrumpf den statischen Effekten von insgesamt 165 000 Starts und Landungen ausgesetzt, dabei ist die gesamte normale Lebensdauer eines solchen Flugzeugs auf nur 44 000 Mal Abheben und Aufsetzen ausgelegt. «Dabei ist nie ein statisches Problem aufgetreten», betont der Ingenieur Steve Chisholm.
Mit anderen Worten: Egal, wie unrealistisch lange das Flugzeug fliegt, sogar viermal so oft wie in seinem ganzen Leben üblich – es wird nicht auseinanderbrechen. Nun muss Boeing von alldem die Luftfahrtbehörde FAA und in erster Linie die Öffentlichkeit überzeugen. Der FAA-Chef Mike Whitaker hat schon hartes Durchgreifen angekündigt: «Ein Zurück zu Business as usual wird es für Boeing nicht geben. Die müssen echte und tiefgreifende Verbesserungen angehen, und wir werden sie auf jedem Schritt in die Verantwortung nehmen.»