Der 35-jährige Premierminister hat einen rasanten Aufstieg hinter sich und gilt als möglicher Präsidentschaftskandidat. Wenn da nur der Ärger mit den Finanzen und den Europawahlen nicht wäre.
«Gabriel Attal, das ist die Rückkehr von Nicolas Sarkozy.» Diesen Satz sagte der frühere sozialistische Staatspräsident François Hollande kürzlich am TV über den französischen Premierminister. Und meinte ihn nicht als Kompliment. Denn Hollande und sein konservativer Vorgänger Sarkozy sind sich spinnefeind. Attal spreche genau wie Sarkozy, er benutze die gleichen Floskeln, die gleiche Gestik, habe den gleichen konfrontativen Stil, schnödete Hollande.
Seit hundert Tagen ist Gabriel Attal erst im Amt, aber der Regierungschef hat sich schon viele Feinde gemacht, nicht nur bei den Linken. Seine Popularitätswerte sind mittlerweile fast so schlecht wie jene von Emmanuel Macron. Dabei hat der Präsident seinen energiegeladenen Renaissance-Kollegen mit der Absicht befördert, die Mittepartei vor den Europawahlen im Juni wieder beliebter zu machen.
Doch der erhoffte Attal-Effekt ist nicht eingetreten, Umfragen sagen dem rechtsnationalen Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen einen triumphalen Sieg voraus. Die vor kurzem noch totgesagten Sozialisten können sich Hoffnungen machen, Renaissance auf den dritten Platz zu verdrängen. In den Reihen der Macronisten schwankt die Stimmung zwischen Fatalismus und Panik.
Dauerpräsent auf allen Kanälen
Niemand wirft Attal vor, er sei untätig, vielmehr das Gegenteil ist der Fall. Eher wirkt der Regierungschef getrieben, ist dauerpräsent auf allen Kanälen. Eine Käse- und Weinmesse, eine Shampoofabrik, eine Luftwaffenbasis in Lyon, Anti-Terror-Einheiten in Paris: Mit «Attal besucht»-Bildern liessen sich ganze Fotoalben füllen. Auch aus seinen TV-Auftritten und den Reden im Parlament macht der Premierminister eine Show. Und versucht so, aus dem Schatten des Präsidenten herauszutreten, in dem ein Premier im französischen Politsystem immer steht.
Gabriel Attal ist kein Langweiler, kein Durchschnittstyp, das zeigt sich schon an seiner Biografie. Er hat väterlicherseits tunesisch-jüdische Vorfahren, seine Mutter stammt von deutschbaltischen und russischen Adligen ab. Obwohl er wie seine drei Schwestern christlich-orthodox getauft ist, sah er sich laut eigenen Aussagen immer wieder antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt.
Attal lebte fünf Jahre lang in einer eingetragenen Partnerschaft mit seinem Politikerkollegen Stéphane Séjourné. Dieser präsidiert die Macron-Partei – und Attal holte ihn im Januar als Aussenminister ins neue Kabinett. Nicht einmal in den Klatschspalten war das ein grosses Thema, das Privatleben der Politiker ist in Frankreich weitgehend tabu. Und den seriösen Medien reichte die Erklärung der beiden, dass sie seit 2022 getrennt seien, um keinen Interessenkonflikt oder Fall von Vetternwirtschaft zu wittern.
Smart und mit einem Hang zur Arroganz
Gabriel Attal ist ein typischer Absolvent der politikwissenschaftlichen Eliteschmiede Sciences Po, smart, rhetorisch beschlagen, mit einem Hang zur Arroganz. Untypisch ist jedoch, wie schnell sein Aufstieg verlaufen ist. 2016 wechselte der frühere Sozialist ins Macron-Lager und wanderte auch mit seinen Positionen nach rechts. Für diese Geschmeidigkeit wurde er bald belohnt.
2018, mit gerade einmal 29 Jahren, wurde Attal Jugendminister im Bildungsministerium und stellte damit einen neuen Rekord als jüngstes Regierungsmitglied auf. Im Mai 2022 wurde er Minister für öffentliche Haushalte, nur ein gutes Jahr später durfte er dann das ganze Bildungsministerium übernehmen – ein heikler und anspruchsvoller Posten in Frankreich. Dass er vor symbolträchtigen und drastischen Schritten nicht zurückschreckt, bewies Attal, als er in den Klassenzimmern das Tragen der Abaya verbot. Er hält das muslimische Gewand für nicht vereinbar mit dem laizistischen Charakter der Schule.
Nun ist der Mann mit dem bubenhaften Gesicht, der im März erst seinen 35. Geburtstag feierte, auch der jüngste Premierminister in der Geschichte der Fünften Republik. Das brachte ihm den Spitznamen «Baby-Macron» ein. Aber Welpenschutz erhielt Attal nie. Nach wenigen Tagen im Amt sah er sich mit einer ersten gravierenden Krise konfrontiert.
Ärger mit Bauern und Finanzen
Die Bauern gingen auf die Barrikaden, wütend über sinkende Einnahmen, steigende Steuern und verschärfte Umweltauflagen. Attal gelang es mit teuren Geschenken, die Situation zu beruhigen. Die Landwirte bekommen Soforthilfen bei Unwetterschäden oder Seuchen, sie behalten ihr Steuerprivileg beim Agrardiesel, und die staatliche Bürokratie wird reduziert.
Doch auch die folgenden Wochen hatten es in sich. Es folgten hitzige Debatten über einen Ausbau der bisher dürftigen Unterstützung Frankreichs für die Ukraine. Über die grassierende Gewalt an Frankreichs Schulen, die Attal mit «extrem starken» Massnahmen bekämpfen will – welche das sind, ist noch unklar. Über eine Liberalisierung der Sterbehilfe, ein Vorzeigeprojekt Macrons, das bei vielen Ärzten und der katholischen Kirche auf erbitterten Widerstand stösst. Und es folgte der Anschlag in Moskau Ende März, auf den die Regierung mit der Ausrufung der höchsten Terrorwarnstufe in Frankreich reagierte.
Die grösste Herausforderung sind allerdings die maroden Staatsfinanzen. Frankreich hatte letztes Jahr ein Defizit von 5,5 Prozent des BIP, der Schuldenberg wird immer grösser. Für das laufende Jahr rechnet die Regierung bereits wieder mit roten Zahlen im Bereich von 5,1 Prozent. Attal versucht deshalb zunehmend verzweifelt, sein Kabinett dazu zu bewegen, Sparmöglichkeiten und neue Geldquellen zu finden. Dass er dabei auch die Arbeitslosenversicherung zurückstutzen will, kommt aber selbst im eigenen Lager nicht nur gut an: Politiker vom linken Flügel der Präsidentenpartei stellen sich offen gegen den Premierminister.
Dynamisch und sympathisch
Attal könnte hoch fliegen. Sollte er seine schwierigen Aufgaben meistern, ist er 2027, wenn Macron nicht mehr antreten darf, ein möglicher Kandidat von Renaissance für die Präsidentenwahl. Laut einer aktuellen Umfrage liegt Attal parteiintern nur knapp hinter dem anderen Favoriten, Édouard Philippe, dem ersten Regierungschef unter Macron. Philippe gilt in der Bevölkerung als kompetenter, solider und ehrlicher, sein Nachfolger dafür als dynamischer und sympathischer. Zu seinen Ambitionen hat sich Attal bisher nicht geäussert, er lächelt die Frage jeweils weg.
Attal könnte aber auch tief fallen. Und das sehr bald. «Er hat Angst, dass er die kürzeste Regierung in der Geschichte anführt», stichelt Olivier Marleix, der Fraktionschef der konservativen Républicains in der Nationalversammlung. Marleix’ Partei will Attal mit einem Misstrauensvotum loswerden, weil sie die finanzielle Situation des Landes für verheerend hält.
Zwar gab es einen solchen Sturz einer Regierung erst einmal seit 1958. Beobachter halten die Gefahr für Attal dennoch für real. Denn die Macronisten haben keine Mehrheit in der Nationalversammlung. Das Rassemblement national will das Misstrauensvotum unterstützen, und auch die linke Opposition liebäugelt damit.
Attal glaubt an die grosse Wende
Macron hat angekündigt, bei einem Aus der Regierung gleich das Parlament aufzulösen. Doch dass er mit dieser Drohung das Misstrauensvotum verhindern kann, ist höchst unsicher. Denn die Anführer der Opposition wissen auch, wie schlecht die Umfragewerte von Renaissance sind – und wie viel Macron mit Neuwahlen zu verlieren hätte. Das RN könnte laut Umfragen sogar eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erringen.
Noch ist nicht gewiss, dass es zum Misstrauensvotum kommt. Denn bei den Républicains gibt es eine Minderheit, die dagegen ist und lieber einen Schulterschluss mit Macron und Attal möchte. Doch selbst bei einem Scheitern des Vorstosses könnte der Premierminister nicht aufatmen. Denn die Wahrscheinlichkeit besteht, dass er als Sündenbock herhalten muss, falls die Europawahlen am 9. Juni für Renaissance zu einem Fiasko werden.
Noch glaubt er, dass es nicht so weit kommen muss, noch sei eine Wende möglich, sagte er bei seinem Staatsbesuch in Kanada letzte Woche. «Ich bin in der Hitze des Gefechts.» Die Möglichkeit eines Verlustes des Amts sieht er angeblich gelassen, wie «Le Monde» schreibt. «Tja, dann werde ich eben Premierminister gewesen sein», soll Attal gesagt haben.