Im Verfahren über die mutmassliche Preisgabe von Staatsgeheimnissen an Russland bestreitet der angeklagte Mitarbeiter des deutschen Auslandsdienstes seine Schuld. Er habe kein Geld erhalten und nur seinen Job gemacht. Damit widerspricht er auch Aussagen des mitangeklagten Arthur E.
Seit gut vier Monaten läuft in Berlin der Prozess zum Verrat von Staatsgeheimnissen an Russland. Angeklagt sind ein Mitarbeiter des Auslandsgeheimdienstes (BND) und ein Komplize, wobei nicht mehr ganz klar zu sein scheint, ob das Wort «Komplize» zutreffend ist. Am Mittwoch machte der Hauptangeklagte Carsten L., ein Referatsleiter des BND, eine umfassende Aussage. Zusammengefasst: Er habe den BND nicht verraten – und damit auch keine Staatsgeheimnisse.
Mit seinen Einlassungen steht Carsten L. teilweise in erheblichem Widerspruch zu den Aussagen seines vermeintlichen Komplizen Arthur E. Dieser hatte sich im März ebenfalls ausführlich zu den Vorwürfen geäussert. Es fragt sich nun, wer von den beiden die Unwahrheit sagt oder ob es sich um ein abgekartetes Spiel der beiden handelt, das dazu dient, das Berliner Kammergericht zu täuschen.
Seit mehr als einem Jahr sitzen Carsten L. und Arthur E. in Untersuchungshaft. Sie sollen dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB Informationen zugespielt haben, die einerseits Einblicke in vom Westen an die Ukraine gelieferte Waffensysteme ermöglichten und andererseits dafür sorgten, dass der geheime Zugang westlicher Nachrichtendienste zu Chats der Söldnergruppe Wagner aufflog. Dafür sollen sie 450 000 beziehungsweise 400 000 Euro bekommen haben.
Die Aufgabenverteilung der beiden soll laut der Anklage eindeutig gewesen sein. Während Carsten L. interne Informationen beschaffte, brachte sie Arthur E. nach Moskau. Nachdem der BND durch einen befreundeten Nachrichtendienst über einen mutmasslichen Maulwurf in den eigenen Reihen informiert worden war, nahmen die deutschen Behörden zunächst Carsten L. und dann Arthur E. fest. Ihnen droht im Fall einer Verurteilung eine lebenslängliche Gefängnisstrafe.
Nur seinen Job gemacht
Gemäss der Aussage von Carsten L. hat es sich so, wie es ihm vorgeworfen wird, aber gar nicht zugetragen. Vielmehr habe er seinen Job gemacht und versucht, den heute 32-jährigen Mitangeklagten wegen seiner Afrika-Kenntnisse als Quelle für den BND anzuwerben. Das sei mit Vorgesetzten und anderen Abteilungen im Dienst auch so abgesprochen gewesen. Ob das stimmt, dürfte das Gericht nachprüfen können, wenn es die entsprechenden BND-Mitarbeiter als Zeugen befragt.
Anders als Arthur E., der sich bereits bei Polizei und Bundesanwaltschaft umfassend geäussert hatte, liess sich Carsten L. am Mittwoch erstmals zu den Tatvorwürfen ein. Der heute 53-Jährige ist Berufssoldat und, wie zahlreiche andere Angehörige der Bundeswehr, zum BND abgesondert. Laut seiner Aussage hat er Arthur E. gemeinsam mit einem ehemaligen Militärkameraden am 1. August 2022 in einem Biergarten im oberbayrischen Weilheim erstmals getroffen.
Bei Bier und Essen habe E. von seinen Geschäften mit Bodenschätzen und besten Kontakten zu ranghohen Persönlichkeiten in Afrika berichtet und sie mit Bildern und Videos belegen können. Das sei beeindruckend und interessant gewesen, sagte L. Zwar habe er an diesem Abend vorübergehend den Eindruck gehabt, E. wolle ihn dazu bringen, in sein Geschäft zu investieren. Doch für ihn sei E. lediglich als eine mögliche Quelle infrage gekommen, weil der BND solche Leute brauche, «die herumkommen, Kontakte und einen Arsch in der Hose haben».
Bereits in diesem ersten Gespräch habe E. von einem russischen Bekannten gesprochen, der als «Grossinvestor» bei ihm einsteigen wolle und eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland benötige, sagte L. Dazu müsse er aber von der Liste der von der EU im Zuge des Krieges in der Ukraine mit Sanktionen belegten Russen genommen werden. Ob L. da etwas machen könne. Er habe das offengelassen und erst einmal eine Überprüfung von E. veranlasst, berichtete L. Im BND gibt es die Abteilung «Operative Sicherheit», die Personen daraufhin prüft, ob sie als Quelle infrage kommen.
Aussage gegen Aussage
In seiner Aussage am Mittwoch geht Carsten L. auf Vorwürfe und Aussagen verschiedener Seiten zu ihm ein. So hatte Arthur E. im März dem Gericht von einem Treffen mit L. und einem Bekannten aus Russland am 12. September 2022 am Starnberger See berichtet. Dort sei man übereingekommen, «sich gegenseitig etwas Gutes zu tun». Carsten L. soll das laut der Darstellung von E. so verstanden haben, dass er geheimes Material aus dem BND an Russland liefert.
Dem widerspricht L. Dieses Treffen habe es gar nicht gegeben. Er habe am 12. September 2022 an seinem Dienstsitz in Pullach bei München gearbeitet und am Abend das Fussballtraining der A-Junioren des TSV Weilheim geleitet – 25 Kilometer von dem behaupteten Treffpunkt mit E. entfernt. Anders als von E. dargelegt, habe er auch kein Interesse an Geschäften mit ihm gehabt.
Er habe ihn vielmehr für einen Betrüger und Hochstapler gehalten, dem es darauf angekommen sei, von ihm und seiner – offensichtlich gutsituierten Familie – Geldzahlungen zu erhalten. Dieser Eindruck habe sich immer mehr verfestigt, je länger Arthur E. Geschäftsmöglichkeiten und Informationen versprochen und dann nichts geliefert habe.
Carsten L. berichtete, dass der BND zu jener Zeit – es waren die ersten Monate des russischen Krieges in der Ukraine – ein Leck in seiner Residentur in der Botschaft in Moskau vermutet habe. Unklar war, über wen die Informationen abflossen. Arthur E., so berichtete L., habe geäussert, sein russischer «Grossinvestor» verfüge über exzellente Kontakte in die russischen Dienste, konkret auch zu denen, die die deutsche Botschaft beobachteten. Weil der BND bei der Suche nach dem Leck nicht weitergekommen sei, habe man ihn, so sagte L., beauftragt, über Arthur E. und seine Kontakte nach Moskau zu versuchen, Informationen zu beschaffen. E. habe aber nichts geliefert.
Doch kein Verräter?
Auch das wird sich für das Gericht mutmasslich durch die Befragung der entsprechenden Mitarbeiter des BND klären lassen. Zunächst steht jedenfalls die Frage im Raum, ob Carsten L. doch nicht der Verräter ist, für den ihn die Bundesanwaltschaft bis jetzt hält. L. widerspricht der Anklage noch in einem weiteren, zentralen Punkt. Es geht um das Geld, das Carsten L. für seine Spionagedienste von den Russen erhalten haben soll. Gemäss der Anklage hat es ihm Arthur E. nach einer Rückkehr aus Moskau in einem Briefumschlag übergeben.
Carsten L. bestreitet auch dies. E. habe ihm zu keinem Zeitpunkt etwas übergeben, «auch nicht Briefumschläge», äusserte er. Doch woher stammen dann die 400 000 Euro, die in einem Schliessfach in München gefunden wurden? Auch darauf geht L. umfassend ein. Es handele sich um gemeinsame Ersparnisse von ihm und seiner Frau. 210 000 Euro stammten demnach von ihr, der Rest von ihm. Seine Frau habe ihr Geld zuvor «in einem textilen Koffer im Dachgeschoss des gemeinsamen Hauses» aufbewahrt. Nach seiner Versetzung von Pullach nach Berlin habe sie verlangt, ihre Ersparnisse zusammen an einem Ort zu verwahren. Daraufhin habe L. ein Schliessfach eröffnet.
Schliesslich geht Carsten L. auch auf die Vorwürfe ein, er sei AfD-Sympathisant, habe sich politisch radikalisiert und den BND sehr kritisch gesehen. So hatten es Medien berichtet, etwa das Online-Portal T-Online. Auch dies treffe nicht zu, führte er aus. Vielmehr habe er die Strukturreform im BND kritisch gesehen, weil er befürchtet habe, dass in der Folge die Leistungsfähigkeit des Dienstes abnehmen würde. Auch sympathisiere er nicht mit der AfD, «schon gar nicht in ihrer heutigen Form». Er entstamme einer aus Schlesien vertriebenen Familie, sei konservativ und vor allem kritisch «gegenüber der früheren Sowjetunion und den Russen sozialisiert worden, weil diese für den Verlust seiner Heimat verantwortlich» seien.
Was ist Lüge, was ist Wahrheit?
Wenn das alles stimmt, was Carsten L. am Mittwoch zu Protokoll gab, wer hat den Russen dann die Information beschafft, dass die Chats der Wagner-Gruppe mitgelesen werden? Welche Rolle spielte Arthur E. wirklich? War er ein Mitarbeiter oder nur ein «nützlicher Idiot» des russischen FSB, um mit Carsten L. an einen Mitarbeiter des BND zu gelangen, der Zugriff auf heikle Informationen hatte? Welcher Schaden ist dem BND durch das Verhalten von Carsten L. wirklich entstanden? Und woher haben die Eheleute L. 400 000 Euro, von denen sie mehr als die Hälfte jahrelang auf dem Dachboden gelagert haben wollen?
Es sind Fragen wie diese, die nach der Aussage des Angeklagten am Mittwoch aufkamen und bis jetzt unbeantwortet sind. Von Anfang an war klar, dass der Prozess gegen Carsten L. und Arthur E. lang und schwierig werden würde. In Teilen lässt er sich bis anhin gar nicht beurteilen, weil Aussagen aus Gründen der Geheimhaltung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Was also ist Lüge, was ist Wahrheit?
Als Carsten L. die Fragen des Richters beantwortete, sass sein angeblicher oder tatsächlicher Komplize Arthur E. hinter ihm in der Sicherheitskabine und schüttelte immer wieder den Kopf. Es sah so aus, als wollte er zum Ausdruck bringen, dass die Aussagen von L. nicht stimmen. Als sich Arthur E. indes ein paar Wochen zuvor in eigener Sache einliess, nannte die Anklage wiederum seine Aussagen widersprüchlich und zweifelte seinen Aufklärungswillen an.
Vor dem Berliner Gericht dürfte noch eine lange Beweisaufnahme liegen, um in diesem verwirrend wirkenden Fall zu einem Urteil kommen zu können.