Plötzlich steht eine heilige Kuh zur Disposition. Verbänden wie Pro Natura oder auch Stiftung Landschaftsschutz wird es nicht mehr möglich sein, gegen kleinere Einzelprojekte innerhalb der Bauzone vorzugehen. Der Ständerat dürfte den Entscheid bestätigen.
Potenzielle Bauherren können aufatmen. Wer vorhat, in naher Zukunft ein Haus zu bauen, dessen Geschossfläche kleiner ist als 400 Quadratmeter, muss sich um allerlei kümmern – nicht aber um eine mögliche Einsprache von Umwelt- oder Denkmalschutzorganisationen. Verbänden wie Pro Natura, Greenpeace, die Fondation Franz Weber oder auch Stiftung Landschaftsschutz wird es nicht mehr möglich sein, gegen kleinere Einzelprojekte innerhalb der Bauzone vorzugehen. Der Nationalrat hat am Mittwochnachmittag mit deutlicher Mehrheit eine parlamentarische Initiative von Philipp Matthias Bregy angenommen.
«Drohpotenzial» der Beschwerde
Der Mitte-Fraktionschef nannte seinen Vorstoss «David gegen Goliath». Privatpersonen sollen vor langwierigen und vor allem teuren Verfahren gegen finanziell sowie personell ungleich stärkere Verbände verschont bleiben. Es ist womöglich das erste Mal nach über fünf Jahrzehnten, dass das Verbandsbeschwerderecht materiell nicht ausgebaut, sondern eingeschränkt wird. Der Ständerat dürfte den Entscheid bestätigen. Schlägt hier gerade ein Pendel zurück?
Das Verbandsbeschwerderecht galt in der Schweiz lange Zeit als heilige Kuh. Nicht nur die Bauern und Ärzte bündeln ihr Interesse. Auch Vögel, Fische oder Köcherfliegen sollen in Bundesbern eine Stimme haben. In der Zwischenzeit hat sich aber rund um die Umwelt-, Natur- und Denkmalschutzorganisationen eine administrative Industrie entwickelt, die weit über den Bereich der Nichtregierungsorganisationen (NGO) in die Regierungsorganisation, also in die Bundesverwaltung, hineinreicht. Besonders beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) ist die Durchlässigkeit zwischen Bund und Verbänden wie Pro Natura gross.
Den letzten Versuch, diesen stetig und still wachsenden Einfluss der Verbände einzudämmen, unternahm die FDP. Nach zahlreichen Einsprachen (auch von Verbänden) gegen den Neubau des Zürcher Hardturmstadions brachte sie 2008 eine Initiative vors Schweizer Stimmvolk, um das Verbandsbeschwerderecht einzuschränken. «Schluss mit der Verhinderungspolitik!» – die Vorlage scheiterte aber deutlich.
Seither konnten die Verbände ihre Macht weiter ausbauen. In Branchen wie dem Tourismus, die auf kostenintensive Infrastrukturen angewiesen sind, musste das stets drohende Verbandsbeschwerderecht längst in die Investitionspläne implementiert werden. Eingriffe in die Natur werden vorauseilend «kompensiert».
Die rot-grüne Ratslinke sieht im Beschwerderecht der Verbände ein urschweizerischer Prototyp der Sammelklage. Bei den Bürgerlichen spricht man hinter vorgehaltener Hand von einer staatlich geförderten Schutzgelderpressung. Die FDP-Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher sprach im Plenum etwas diplomatischer vom «Drohpotenzial» des Verbandsbeschwerderechts. Dadurch werde eine allfällige Verhandlungsposition der NGO zusätzlich gestärkt – vor allem gegenüber Privaten.
Der Entscheid des Nationalrats entgegen der Vormeinung sämtlicher Verbände könnte der Beginn eines Paradigmenwechsels sein. Wie gross die Nervosität bei den NGO ist, zeigte sich an ihren Druckversuchen im Vorfeld der Debatte. Mehrere Parlamentarier erzählten von Briefen, in denen die Verbände mit dem Finger vor allem auf die Nachbarn zeigten. Diese seien es, die in der Schweiz private Projekte verhinderten und verzögerten. Nicht erwähnt wurde dabei der Umstand, dass ein Anrainer etwa im Engadin unmittelbarer betroffen ist von einem Privatprojekt als der Naturschützer in seiner städtischen Genossenschaftswohnung. Solche Widersprüchlichkeiten zeigten sich auch in der Debatte am Mittwoch.
Für das Stromgesetz, aber gegen die Trift-Staumauer
So kämpfte die Schaffhauser SP-Nationalrätin Martina Munz mit Händen und Füssen gegen Bregys Initiative. Man müsse wissen, dass Verbände nur Beschwerde einreichen könnten, wenn Gesetze nicht eingehalten würden, sagte Munz. «Indem Sie das Verbandsbeschwerderecht einschränken, rufen Sie die Bauherrschaft auf, bestehende Gesetze zu brechen.» Mit dieser abenteuerlichen Argumentation – in der Schweiz entscheiden Gerichte und nicht NGO über die Einhaltung von Gesetzen – konnte sie nicht punkten.
Dass Munz selbst als Präsidentin des Verbands Aqua Viva den Bau der Trift-Staumauer im Berner Oberland bekämpft, sich aber gleichzeitig beim anstehenden Stromgesetz für den rascheren Ausbau von erneuerbaren Energien einsetzt, dürfte der bürgerlichen Mehrheit im Rat nicht entgangen sein.
Auch der zuständige Bundesrat, Umweltminister Albert Rösti, hatte keine grosse Mühe, sich hinter die bürgerliche Mehrheit zu stellen. Der klare Entscheid kann auch als Zeichen gegen die Obstruktionspolitik der Umweltverbände im Energiebereich gedeutet werden.