Beim iranischen Angriff auf Israel gab es nur ein schwer verletztes Opfer: ein siebenjähriges Beduinenmädchen. Ein Besuch bei den Angehörigen, die voller Wut auf die Regierung sind.
Mohammed al-Hasuni ist resigniert und wütend. Links über seiner Haustür klafft ein Loch. Direkt darunter befand sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag seine siebenjährige Tochter Amina, als sie, aufgeweckt von den Explosionen, nach draussen rennen wollte. Sie ist das einzige schwerverletzte Opfer von Irans Angriff auf Israel. «Gott wird entscheiden, ob sie lebt oder nicht», sagt Mohammed zweieinhalb Tage danach, während er auf einer Matte unter einem Wellblechdach im Wüstendorf al-Furah liegt.
In jener Nacht schoss das Regime in Teheran über 300 Raketen und Drohnen auf Israel ab. 99 Prozent der Geschosse wurden abgefangen. Doch für die Beduinenfamilie Hasuni wurde der Angriff zum Albtraum. Die siebenjährige Amina wurde von einem Raketensplitter am Kopf getroffen. Ob ihre Verletzung von einer israelischen Abwehrrakete oder einem iranischen Geschoss stammt, ist unklar. Das kleine Mädchen befindet sich immer noch im Spital und ist nicht bei Bewusstsein.
Wieder hat ein Angriff auf Israel die Beduinen hart getroffen. Schon beim Massaker der Hamas am 7. Oktober wurden 19 von ihnen ermordet und sechs als Geiseln genommen. Rund 300 000 Beduinen leben im jüdischen Staat. Die Nachfahren von Halbnomaden sind arabische Muslime und israelische Staatsbürger. Seitdem die Spannungen im Nahen Osten zunehmen, geraten sie immer öfter zwischen die Fronten. Woran liegt das?
«Die Juden haben mehr Respekt für Hunde als für uns»
Wer zum Dorf der kleinen Amina gelangen will, braucht Geduld. Denn ihre Heimat ist auf keiner Karte eingezeichnet, es führen kein Schild und keine Strasse nach al-Furah. Im Schneckentempo müssen Autos über eine Schotterpiste durch die Wüste fahren, bis sie die Ansammlung von ärmlichen Wellblechhütten erreichen. Offiziell existiert dieser Ort nicht.
Die Hasunis leben wie rund 100 000 andere Beduinen in Israel in einem «nicht anerkannten Dorf». Sie weigern sich, jenes Land zu verlassen, das sie als ihr eigenes ansehen. Offiziell sind die Gebiete in der Negev-Wüste aber in staatlichem Besitz. Nach der Gründung Israels wurden sie in Anlehnung an alte osmanische Landgesetze nationalisiert. Viele Beduinen kannten damals das Konzept des Grundbesitzes nicht und machten ihre Ansprüche nicht geltend. Andere weigerten sich, das Land als ihres zu registrieren, weil sie so keine Steuern zahlen und keinen Militärdienst leisten mussten.
Da Israel die Dörfer nicht als solche anerkennt, werden die meisten weder mit Strom oder Wasser versorgt, noch sind sie ans Strassennetz angeschlossen. Viel wichtiger noch: Raketenangriffen der Hamas oder Irans sind viele Beduinen schutzlos ausgeliefert. Weil Dörfer wie al-Furah offiziell nicht existieren, schützt sie weder das Raketenabwehrsystem Iron Dome, noch dürfen ihre Bewohner Schutzräume bauen.
«Sag den Menschen in der Schweiz, dass wir Schutzräume brauchen», sagt Mohammed al-Hasuni, der Vater des schwerverletzten Mädchens. Seit seine Tochter verletzt wurde, bringen die Bewohner von al-Furah allabendlich ihre Kinder zu einer einige Kilometer entfernten Brücke, damit sie darunter schlafen können. Das sei sicherer, falls es noch einmal zu einem Angriff komme, sagt der 49-Jährige.
Das Dorf befindet sich ganz in der Nähe des Militärflugplatzes Nevatim, der von Iran ins Visier genommen wurde. Aus der Sicht der Beduinen nimmt Israel billigend in Kauf, dass abgeschossene Raketen und Schrapnell auf ihre ungeschützten Häuser fallen.
Als Israels Armeesprecher sich noch in der Nacht des Angriffs an die Öffentlichkeit wandte, erwähnte er Amina. «Nur ein kleines Mädchen wurde verletzt, und wir hoffen, es geht ihr gut», sagte er. Abdel al-Hasuni, ein weiteres Familienmitglied, glaubt davon nichts: «Die Juden haben mehr Respekt für Hunde als für uns», sagt er, während er neben dem Vater des verletzten Kindes sitzt.
Die Beduinen fühlen sich als Bürger zweiter Klasse
Wenige Kilometer entfernt, in einem weiteren Dorf, das es offiziell nicht gibt, lebt Jihad al-Hasuni. Er ist ein Cousin von Aminas Vater. Wie viele Beduinen hat er mehrere Ehefrauen und viele Kinder, zwölf insgesamt. «Die Regierung sollte ihre Bürger beschützen – also uns. Aber hier tut der Staat nichts, denn in Israel sind wir Bürger zweiter Klasse», sagt er. Vier seiner Nachbarn seien bereits bei Raketenangriffen der Hamas getötet worden.
«Bei dem Angriff Irans hat die ganze Erde gebebt, wir haben die Raketen am Himmel gesehen», sagt er. Seitdem schlafen er und seine Familie alle gemeinsam im Wohnzimmer auf einem Matratzenlager, um die Kinder zu beruhigen. Wenig später stösst seine erste Frau, Naval, hinzu. «Als Mutter habe ich grosse Angst. Ich gehe davon aus, dass jeden Moment auch hier etwas einschlagen könnte.»
Die 49-Jährige lächelt viel, doch ihr ist anzumerken, wie unwohl ihr seit dem iranischen Angriff ist. «Meine sechzehnjährige Tochter Duha weint viel, seit die Raketen hier heruntergekommen sind.» Sie habe Angst, als Nächste von einer Rakete getroffen zu werden.
Jihad al-Hasuni erzählt, dass der Staat immer wieder versuche, ihn von dem Land zu vertreiben, auf dem er mit seiner Familie lebt. Vor einigen Monaten seien Mitarbeiter der israelischen Behörde gekommen und hätten ihm befohlen, ein noch nicht fertiggestelltes Haus für seinen Sohn wieder abzureissen. Ein Haufen Steine und ein abgestecktes Gebiet unweit seines eigenen Hauses zeugen von dem Bauprojekt.
Ein Grossteil der israelischen Beduinen lebt heute in Städten, die Israel zwischen 1968 und 1989 für sie errichtet hat. Seit der Jahrtausendwende hat der israelische Staat zudem mehrere, teilweise umstrittene Initiativen lanciert, um die Konflikte mit den Beduinen beizulegen. Es entstanden mehr Arbeitsplätze, und die öffentliche Infrastruktur wurde verbessert. Doch einige Beduinen wie Jihad al-Hasuni widersetzen sich bis heute der Urbanisierung, obwohl ihr Lebensstandard in den Beduinenstädten zweifellos höher wäre.
Jihad al-Hasuni sagt, er habe nie darüber nachgedacht, fortzuziehen. «Wenn ich gehe, dann verliere ich jeden Anspruch auf das Land», sagt er. Einerseits habe er als arbeitsloser Bauarbeiter kein Geld, um mit seiner grossen Familie woanders hinzuziehen. Andererseits sei es auch eine Grundsatzentscheidung. «Mein Grossvater lebte schon hier, bevor es den Staat Israel gab. Das ist unser Land, ich gehe hier nicht weg.»
Der Zorn der Beduinen gilt Israel, nicht Iran
Hasuni sieht die Schuld für die Angriffe bei Israel. Weist man ihn darauf hin, dass Iran doch sehr genau wisse, dass sich um den Nevatim-Militärflugplatz vor allem von muslimischen Arabern bewohnte Dörfer befänden, wehrt er ab. «Ich weiss nicht, warum sie gerade hier angegriffen haben. Aber eins ist klar: Die Israeli hätten den General in Syrien nicht umbringen sollen, dann wäre das nicht passiert.»
Die Hamas, deren Raketen vier seiner Nachbarn umgebracht haben, verurteilt er ebenfalls nicht. «Sie haben ziellos geschossen, sie haben nicht auf Muslime gezielt.» Der Zorn von Hasuni gilt vielmehr dem Land, dessen Pass er besitzt, dem er sich aber nicht zugehörig fühlt. «Israel hat uns nichts gegeben», sagt Jihad al-Hasuni.
Die Beduinen sind überzeugt, dass sich auch jetzt nichts an ihrer Situation ändern wird. Nach dem Angriff sei der Bürgermeister der nahe gelegenen Stadt Arad gekommen, sagt Mohammed al-Hasuni, der Vater von Amina. Sonst habe sich niemand von der Regierung bei ihm gemeldet. «Der Bürgermeister hat uns versprochen, einen Schutzraum zu bauen», sagt er. Das reiche aber bei weitem nicht, um alle Dorfbewohner zu schützen – zudem glaubt Hasuni nicht, dass der Bürgermeister sein Versprechen hält: «Der Regierung ist es egal, wenn wir getötet werden.»
Mitarbeit: Mary Böhm.