Im Kulturbetrieb wird zu viel Moral gepredigt und dominiert der gutgemeinte Aktivismus. Wahre Kunst hat andere Aufgaben. Sie erschüttert Gewissheiten und sät Zweifel. Sie ist kein volkspädagogisches Institut.
Was waren das für Zeiten, als Kunst die Menschen noch in Aufregung zu versetzen vermochte. Es ist noch gar nicht so lange her. Und wie wenig es brauchte, um für Aufruhr zu sorgen. 1992 zum Beispiel, in Sevilla, als die Schweiz sich an der Weltausstellung von ihrer überraschenden Seite zeigte. Nicht bieder, wie man es hätte erwarten können, aber selbstironisch, verspielt und witzig, was wiederum manchen nicht passte.
Ins kollektive Gedächtnis ging dabei Ben Vautiers schlichter Schriftzug ein: «La suisse n’existe pas» hiess es schwarz auf weiss, wie mit Kreide auf eine Tafel geschrieben, mehrsprachig am Eingang zum Schweizer Pavillon. Die halbe Welt staunte, nur die Schweizer Politik fand es gar nicht lustig und schäumte alsbald ob so viel mit staatlichen Mitteln finanziertem Defaitismus.
Etwas Besseres hätte Ben Vautier und der Kunst gar nicht passieren können. So wenig also brauchte es, um die Schweiz in ihrem Innersten zu erschüttern. Dass ein Land sich hier ausgerechnet am Ort der künstlerischen Selbstdarstellung infrage stellte: Dieser dialektische Witz entging den Kritikern.
Wie dünn freilich der Grat ist zwischen Kunst und Albernheit, zeigte in Sevilla ein zweites Werk von Ben Vautier: «je pense donc je suisse». Es fehlte jeder Witz, jede Ironie, es war einfach ein etwas dümmliches Wortspiel. Da hatte einer eine Idee und hat sie einmal zu oft variiert.
Unterhosen mit Menstruationsblut
Ein paar Jahre später war es in London die britische Künstlerin Tracey Emin, die den angeblich guten Geschmack ihrer Zeitgenossen auf die Probe stellte. Sie zeigte in der Tate Gallery das Werk «My Bed». Es bestand im Wesentlichen aus einem zerwühlten Bett mit zwei Kopfkissen und sichtlich gebrauchtem Bettzeug, mit Menstruationsblut verunreinigte Unterwäsche lag herum, ausserdem Kondome und Schuhe.
So habe ihr Bett ausgesehen, sagte Emin zur Erklärung, nachdem sie in depressivem Zustand vier Tage darin zugebracht und ausser Alkohol nichts getrunken oder gegessen habe. Es war ein autobiografisches Werk, das zugleich die Selbstironisierung einer solchen Inszenierung mit einschloss. Das zeigte sich gerade auch daran, wie Tracey Emin den Vorwurf konterte, so ein Bett könne ja jeder ins Museum stellen: Das tue aber eben nicht jeder.
Ein Vierteljahrhundert später kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie Tracey Emin mit solchen Harmlosigkeiten für Aufregung zu sorgen vermochte. Sei es im Museum, im Konzert oder in der Literatur: Man hat in Kunstdingen längst routiniert aufgehört, sich von solchen Provokationen beunruhigen zu lassen. Man nimmt sie, wo sie noch auftreten, kaum wahr.
Die meisten Künstler haben sich ohnehin in die gemässigten Zonen der Wohlfühlkunst zurückgezogen. Gelegentlich reckt noch einer wie der deutsche Künstler Jonathan Meese die Hand zum Hitlergruss und kommt dann vor Gericht. Sonst passiert eigentlich wenig. Auch in der Literatur sind die Skandalnudeln auf dem Rückzug. Keine Publikumsbeschimpfungen mehr wie damals von Handke. Und Rainald Goetz säbelt sich auch nicht mehr die Stirne auf. Stattdessen traute Familiengeschichten oder Nature Writing mit einem Hang zur Sentimentalität.
Aktivisten dominieren den Kulturschauplatz
«Solche Bücher, die uns glücklich machen», so schrieb Franz Kafka dem Freund Oskar Pollak im Januar 1904, «könnten wir zur Not selber schreiben.» Doch wer braucht schon so etwas? «Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?», so Kafka in seinem Brief. Will heissen: Wozu brauchen wir Kunst oder Literatur, wenn sie uns nicht herausreissen aus unseren Denk- und Sehgewohnheiten, wenn sie uns nicht einen anderen Blick lehren?
Gewiss, das war zu Zeiten rigider Moralvorstellungen und Weltbilder einfacher. Ben Vautier würde heute mit seinem schlichten Satz kaum mehr eine Debatte auslösen, höchstens heftiges Kopfnicken oder energisches Stirnrunzeln. Die Gegenwart scheint nicht gemacht zu sein für die Subtilitäten des Kunstschaffens. Sprich: Reibung entsteht heute nicht dort, wo Künstler mit ihren eigenen Mitteln arbeiten, mit den Ambivalenzen der Sprache oder mit dialektischer Selbstbefragung erstarrter Bilder.
Der Kulturbetrieb hat sich – man vergebe mir die Vereinfachung – zweigeteilt. Hier die ausgeruhten Werke, die uns glücklich machen können, wie es Kafka nannte, und die wir nicht wirklich brauchen und die wir, wenn wir sie brauchten, notfalls auch selber zustande brächten. Und dort die Aktivisten, die eine Agenda verfolgen, die jenseits aller künstlerischen Mehrdeutigkeit ein einfältiges Weltbild propagieren. Sie wissen, wer die Bösen und die Dummen sind, wo die Täter und wer die Opfer sind. Sie haben die Moral, ihre Moral, auf ihre Fahnen geschrieben.
Man konnte das in den letzten Jahren am hiesigen Schauspielhaus in manchen Produktionen erleben. So erhielt das Publikum unlängst in Frischs «Biedermann und die Brandstifter» eine volkspädagogische Belehrung vorgesetzt, in der sich die Moral zur Überlebensgrösse aufblies, während die schon bei Frisch etwas dünn angelegte künstlerische und intellektuelle Substanz noch weiter ausgedünnt wurde.
Doch was aktivistischer Opportunismus in der Kunst bedeutet, wurde einem nirgends in jüngster Zeit so drastisch und mit brutaler Konsequenz vor Augen geführt wie an der letzten Documenta in Kassel. Von Hakenkreuzen bis zu antisemitischen Emblemen wurde ein breites Arsenal an einschlägigen Parolen aufgeboten, um einen Standpunkt zu markieren, der längst jenseits der vom Grundgesetz garantierten Redefreiheit lag.
Dass sich nur allmählich und fast widerwillig Protest regte und gegen die despotischen Manifestationen im Namen der Kunst vorgegangen wurde, ist das eine; dass kaum jemand an der künstlerischen Armseligkeit dieser Artefakte Anstoss nahm, das andere. Es zeigte sich eine eklatante Schwäche im Umgang mit Kunst: Kaum einer mehr wagt sich aus der Deckung und benennt schlechte Kunst als solche – wenn denn die Urteilsfähigkeit in diesen Dingen überhaupt noch vorhanden ist.
Schlechte Kunst soll auch so genannt werden
Man muss an dieser Stelle an einen Vorfall erinnern, der sich vor zwanzig Jahren in Paris zugetragen hatte. 2004 protestierte der renommierte Künstler Thomas Hirschhorn im Centre Culturel Suisse mit seiner Installation «Swiss-Swiss Democracy» angeblich gegen die «Absurdität der direkten Demokratie». Zur Veranschaulichung seines Anliegens schien es ihm notwendig zu sein, dass auf ein grossformatiges Porträt des SVP-Politikers Christoph Blocher gepinkelt wurde.
War das Kunst – oder nicht vielmehr einfach spätpubertärer Unfug? Die Verantwortlichen von Pro Helvetia, die den Auftrag erteilt und das Werk finanziert hatten, sahen kein Problem. Hirschhorn war schliesslich ein Künstler, also machte er Kunst. Ausserdem war er berühmt, wer wollte ihn da infrage stellen? Doch wäre gerade dies die Pflicht der Auftraggeber gewesen, die in solchen Fragen über einige Kompetenz verfügen: das Werk einer ästhetischen Überprüfung zu unterziehen und daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen.
Aber vermutlich wagte keiner das Unaussprechliche auszusprechen: Tut uns leid, Herr Hirschhorn, leider ist es schlechte Kunst. Dass einige Zensur geschrien hätten, das hätte man ertragen müssen und dagegen argumentieren können.
Das Werklein kam auch einigen Politikern zu Ohren und zu Gesicht und führte da zu Schnappatmung mit nachfolgender Massregelung und finanzieller Bestrafung von Pro Helvetia. Auch das war keine besonders kluge und schon gar keine souveräne Reaktion. Aber letztlich war sie auch nachvollziehbar. Es war gleichsam die Strafe für eine Institution, die im Namen der Kunst agierte, aber von Kunst wenig zu verstehen schien.
Es gibt keine Gratis-Moral
Zu viel Moral, manche würden sagen: Moral überhaupt hat der Kunst schon immer geschadet. Wer für das Gute kämpft, soll nicht in die Kunst gehen. Dafür gibt es NGO. Aber Kunst sollte wieder im emphatischen Sinn des Wortes unmoralisch werden. Sie kann es sein, wenn sie sich ihrer Gewissheiten entledigt und auf einfache Antworten oder plakative Bilder verzichtet. Dann kann ein Buch oder ein Bild «die Axt sein für das gefrorene Meer in uns», von der Kafka in seinem Brief an Pollak ebenfalls schreibt.
Darin liegt eines der grossen Kunstmissverständnisse: Es könne nur das Laute oder Schrille, das Obszöne oder Verbotene jene ästhetische Erfahrung hervorbringen, die auch eine existenzielle Erschütterung auszulösen vermag. Dabei trifft das Gegenteil zu: wenn etwa ein leises Stottern auf der Bühne bohrende Selbstzweifel andeutet, die sich im Innenohr zum Sturm entfachen. Auch Beethoven ist mitunter da am erschütterndsten, wenn er fast verstummt. Und kaum einmal wird die Verletzlichkeit des Menschen deutlicher als in Giacomettis filigranen Skulpturen. Oder in Marina Abramovićs Performances.
Die Moral wird hier nicht gratis mitgeliefert. Sie liegt im Auge des Betrachters. Sie entsteht da, wo das Werk den Betrachter herausreisst aus seinen Gewohnheiten, aus seinem Denken, wo es ihn herausfordert, selber zu denken.