«De Humani Corporis Fabrica» ist eine Reise ins Körperinnere. Klar ist: Man hat so etwas noch nicht gesehen. Weniger klar: Will man es sehen?
Der heillos überarbeitete Urologe führt das Endoskop in die Harnröhre ein – und verliert kurzzeitig die Nerven: «Ich bin am Rande eines Herzinfarkts, das ist doch nicht normal!» Eine Ecke weiter, jetzt auf der Höhe der Prostata, beruhigt ihn sein Assistent: «Ich hatte heute noch keine Erektion, das ist noch weniger normal.» Und weiter: «Kennst du den Unterschied zwischen Penis und Phallus? Man sagt mir oft, mein Phallus sei phantastisch.»
Die Stimmen der beiden Männer kommen von weit her, hörbar vielleicht so, wie sie der teilsedierte Patient auf dem Operationstisch vernimmt. Im Bild sind nicht die Ärzte, sondern das, womit sie sich beschäftigen: eine Prostata, gross wie ein Kinderkopf, und die Drahtschlinge, die das Gewebe abschabt. Kopf an Kopf mit der Kamera befinden wir uns im Körperinneren.
Jenseits der Schmerzgrenze
«De Humani Corporis Fabrica» ist im Kino (und in Deutschland im Streaming), und vielleicht wird man einmal sagen, der Film definierte den Nullpunkt dessen, was darstellbar ist. Das neue Experiment der in Neuenburg geborenen Regisseurin Véréna Paravel und des englischen Anthropologen Lucien Castaing-Taylor bezieht sich auf das gleichnamige Werk des niederländischen Mediziners Andreas Vesalius (1514–1564), des Begründers der neuzeitlichen Anatomie. Ob es zumutbar ist, entscheidet die persönliche Schmerzgrenze.
Denn kein Moment ist das Geschehen fiktiv, und niemals sind die Dialoge inszeniert. Das macht die Bilder gequälter Gewebe qualvoll und die Arztgespräche während Operationen zur zynischen Realsatire. Was die Schau «Körperwelten» des Anatomen Gunther von Hagens fürs Museum ist, ist fürs Kino dieser Dok-Film, entstanden in Spitälern rund um Paris: ein Hieb ins Gesicht derer, die an Götter in Weiss und an innere Schönheit glauben.
Blut, Wasser, schäumender Schleim, zähflüssiger Schleim, eine Handvoll Knochen und Knorpel, die den Hautsack zusammenhalten: Das sind wir, zeigt der Film. Schön ist daran gar nichts. Und immer wenn die Kamera in einen Dickdarm hineinrast wie in eine Geisterbahn, um ein Gespenst zu orten, wenn eine weibliche Brust filetiert wird, um den Krebs zu messen, eine Bauchdecke aufgeschlitzt, um ein Kind zu bergen, eine verwachsene Wirbelsäule gebrochen, um sie neu zu stabilisieren – fragt man sich: Was passiert hier eigentlich? Und zu wessen Nutzen? Hochleistungsmedizin und Roboterchirurgie – wie der legendäre Da-Vinci-Operationsroboter – erhalten das Leben auf Teufel komm raus.
Sterben ist versagen
Die Idee, dass der Kampf purer Selbstzweck sei und zur Erhaltung des Spitalwesens diene, liegt auf der Hand. «De Humani Corpore Fabrica» als Einführung in die menschliche Anatomie ist auch ein Porträt des Patienten Spital. Im fensterlosen Untergeschoss bei den Toten hören Afroamerikanerinnen Tanzmusik, während sie Leichen einkleiden. Abgewickelt wird der Akt emotionskalt, es wartet bereits der nächste Tote. In Operationssälen herrscht Spannung und latente Aggression. Entlastungswitze und Anmerkungen zum überteuerten Wohnraum in Clichy helfen dem Team bei schwierigen chirurgischen Eingriffen. Im Polytraumazentrum hilft man sich, indem man ans Karma glaubt. Wer wie wir die Wahl hat, sich hier behandeln zu lassen oder lieber nicht, lehnt dankend ab.
In der Geriatrie haben Menschen diese Wahl nicht mehr. Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel durchziehen den Film mit Szenen aus einer Demenzabteilung, die schier unerträglich sind. Ein Mann, eingesperrt, weil er flüchten will, macht das Kamerateam auf sich aufmerksam, indem er die Aufschrift auf seinen Laken an das Guckloch seines Zimmerfensters presst: «Hôpitaux de Paris». Zwei Frauen, gemeinsam durch die Gänge trippelnd auf der Suche nach Roland, dem Ehemann der einen. Und dann ist da diese tierische Stimme im Hintergrund, die ohne Unterlass schreit. Die Kamera zeigt schliesslich das Wesen. Es ist eine bis auf die Knochen abgemagerte Dame im Rollstuhl. Der Herr nebenan kann es noch sagen: «Ich will sterben!» Entschieden wird das andernorts im Spital.
«De Humani Corporis Fabrica» wird diesen und nächsten Sonntag im Kino Xenix in Zürich gezeigt.