Mit Sozialkürzungen und Subventionsabbau bei erneuerbaren Energien will die FDP den weiteren wirtschaftlichen Abstieg der Bundesrepublik verhindern. Die oppositionelle Union sieht darin bereits eine «Scheidungsurkunde für die ‹Ampel›».
Die Liberalen (FDP) haben einen 12-Punkte-Plan für eine «Wirtschaftswende» in Deutschland vorgelegt, der das Potenzial hat, die Ampelkoalition in Berlin zu sprengen. Die Vorlage ist an diesem Montag im Präsidium der Partei beschlossen worden und soll auf dem Bundesparteitag am kommenden Wochenende in Berlin eingebracht werden. Im Kern geht es darum, die Rente mit 63, den Solidaritätszuschlag und die staatliche Subventionierung von Windkraft und Solarenergie abzuschaffen sowie das Bürgergeld zu reformieren. Die Sozialdemokraten haben bereits deutlich gemacht, dass mit ihnen diese Pläne nicht umzusetzen sind. Dafür kam Beifall von der CDU.
In dem Positionspapier, das der NZZ vorliegt, fordert die FDP deutliche Einschnitte in der Sozialpolitik, um die Wirtschaft zu beleben. Statt Platz 6 im Jahr 2014 belege Deutschland in internationalen Standortrankings heute nur noch Platz 22, heisst es in dem Entwurf. Dies sei ein Alarmsignal, das den dringenden Handlungsbedarf zusätzlich unterstreiche. Deutschland brauche eine «Wirtschaftswende». Nur so könnten Wachstum und Wohlstand gesichert werden, nur so könne sich Deutschland auch geopolitisch behaupten.
Sechs der zwölf Punkte fallen besonders ins Auge, da sie Kernthemen der beiden Koalitionspartner SPD und Grüne betreffen. So fordern die Liberalen eine Reform des Bürgergelds für den Fall, dass Leistungsempfänger eine zumutbare Arbeit ablehnen. Solche Angebote, heisst es in dem Papier, müssten angenommen werden. Dazu zählten auch Ein-Euro-Jobs. «Wer seinen Mitwirkungspflichten im Bürgergeld nicht nachkommt und beispielsweise zumutbare Arbeit ohne gewichtigen Grund ablehnt, sollte mit einer sofortigen Leistungskürzung von 30 Prozent rechnen müssen.»
Sofortige Kürzung des Bürgergelds
Der deutsche Staat zahlt das Bürgergeld an Langzeitarbeitslose und Menschen, die ihren Lebensunterhalt aus anderen Gründen nicht selbständig finanzieren können. Der Regelsatz beträgt derzeit 563 Euro pro Monat. Darüber hinaus übernimmt der Staat etwa die Miet- und Nebenkosten einer Wohnung. Im Gegenzug sind die Empfänger dieser Leistung verpflichtet, sich gemeinsam mit den Jobcentern um eine neue sozialversicherungspflichtige Tätigkeit zu bemühen. Wenn sie eine solche Arbeit etwa ablehnen, kann ihnen das Jobcenter bis jetzt nur stufenweise die Leistungen kürzen: zunächst 10, dann 20 und schliesslich 30 Prozent. Die FDP will nun eine sofortige Kürzung um 30 Prozent. Auch eine vollständige Streichung der Leistungen solle möglich sein.
Der zweite Punkt ist die Rente mit 63. Deutschland könne sie sich aufgrund des Fachkräftemangels nicht mehr leisten, heisst es in dem FDP-Entwurf. «Wer mit 72 noch arbeiten möchte, soll dies unter attraktiven Bedingungen auch machen können.» Dafür könnten etwa der Arbeitgeberbeitrag zur Arbeitslosenversicherung und die Beiträge für die Rentenversicherung gestrichen werden, wenn der Beschäftigte die Grenze erreicht habe, bis zu der er arbeiten müsse.
Deutsche, die 1964 und später geboren wurden, können gemäss dem Rentengesetz erst mit Vollendung des 67. Lebensjahres ohne Abzüge in Rente gehen. Die «Rente mit 63» ist ein Projekt der SPD, das sie vor gut zehn Jahren in der Koalition mit der Union unter Angela Merkel durchgesetzt hat. So können Beschäftigte schon mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen, wenn sie 45 Jahre lang in die staatliche Rentenversicherung eingezahlt haben. In den vergangenen Jahren hat rund die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland vor dem eigentlichen Renteneintrittsalter die gesetzliche Rente beantragt, unter ihnen ein hoher Anteil an Fachkräften. Das gehe aus Daten der deutschen Rentenversicherung hervor, berichtet die «Tagesschau».
Keine neuen Sozialleistungen
Auch mit dem dritten und vierten Punkt wendet sich die FDP deutlich gegen die Sozialpolitik der SPD. So solle die Politik für mindestens drei Jahre keine neuen Sozialleistungen beschliessen. Die Ausgaben müssten konsolidiert werden. Ausserdem solle der Solidaritätszuschlag bis 2027 vollständig abgeschafft werden. Er sei in erster Linie zu einer Steuer für die Wirtschaft geworden und benachteilige die Unternehmen im globalen Wettbewerb. Seit 2021 wird der «Soli» nur noch von Beziehern höherer Einkommen und von Unternehmen erhoben. Ursprünglich wurde er zur Finanzierung der Kosten der deutschen Wiedervereinigung eingeführt.
Der SPD-Fraktionschef im Bundestag, Rolf Mützenich, wies die Pläne der Liberalen umgehend zurück. Die Vorschläge seien «ein Überbleibsel aus der Mottenkiste und nicht auf der Höhe der Zeit», sagte er. Mit wirtschaftspolitischer Kompetenz habe das nichts zu tun, sondern mit weiteren Belastungen für die arbeitende Bevölkerung. «Wir werden nichts machen, was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schwächt und den sozialen Gedanken des Grundgesetzes aushebelt», meinte Mützenich.
Ähnlich äusserte sich der SPD-Parteichef Lars Klingbeil. «Wir lassen nicht zu, dass Politik auf dem Rücken derjenigen gemacht wird, die hart arbeiten und das Land am Laufen halten», sagte er. Wer 45 Jahre lang in Krankenhäusern, Kindertagesstätten oder auf dem Bau schufte, habe ein Recht auf eine abschlagsfreie Rente. Das bleibe.
Subventionierung erneuerbarer Energien beenden
Zwei weitere Punkte im FDP-Plan betreffen vor allem die Kernthemen der Grünen. Zum einen wollen die Liberalen die staatliche Förderung erneuerbarer Energien «schnellstmöglich beenden» und ihre Finanzierung endgültig dem Markt überlassen. Zum anderen beabsichtigen sie, das gerade erst beschlossene nationale Lieferkettengesetz auszusetzen, bis eine einheitliche EU-Lieferkettenrichtlinie in Kraft getreten ist. Das Gesetz sieht vor, dass Unternehmen unter anderem für Umwelt- und Menschenrechtsverstösse ihrer Zulieferer haften. Zudem wollen die Liberalen versuchen, bei der Umsetzung der europäischen Lieferkettenrichtlinie «unverhältnismässige und praxisferne Belastungen für die Wirtschaft» zu verhindern.
Während sich die Grünen bisher nicht zu den Plänen geäussert haben, sieht die oppositionelle Union in dem FDP-Papier das Ende der Ampelkoalition angelegt. Markus Söder, Chef der Christlichsozialen und Ministerpräsident Bayerns, nannte den Entwurf eine «Scheidungsurkunde für die ‹Ampel›» und wertete ihn als Zeichen dafür, dass die Koalition kurz vor dem Aus stehe. Der Generalsekretär der Christlichdemokraten, Carsten Linnemann, sagte, der Entwurf lese sich wie «Lambsdorff 2.0» und enthalte einige Punkte, die man unter Schwarz-Gelb schnell umsetzen könne. «Die FDP muss sich ehrlich machen», sagte er. «Entweder sie steigt aus der ‹Ampel› aus, oder sie setzt einige notwendige Massnahmen durch.»
Mit «Lambsdorff 2.0» spielte Linnemann auf ein Konzept von Otto Graf Lambsdorff von 1982 an, der damals FDP-Wirtschaftsminister in der sozialliberalen Koalition unter dem sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt war. Die wirtschaftspolitische Programmschrift gilt bis heute als «Scheidungsbrief», weil kurze Zeit später die Koalition zerbrach und Helmut Kohl mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zum neuen Bundeskanzler gewählt wurde.
Auch innerhalb der Ampelkoalition gibt es Stimmen, die in dem FDP-Plan das Potenzial sehen, die Regierung zu sprengen. «Wenn die FDP das ernst meinen würde – also jetzt umzusetzen gedenkt –, dann liest sich das Papier wie eine Austrittserklärung aus der Koalition», sagte der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Helge Lindh der «Bild».








